Die vierte Welt

Von Govert Derix

In seinem Buch «Ayahuasca, eine Kritik der psychedelischen Vernunft» bietet der niederländische Philosoph Govert Derix einige Ansätze zu einer neuen Ontologie oder Philosophie des Seins. Grundgedanke ist, die psychedelische Erfahrung zu nutzen, um eine solche Seinsphilosophie in den Griff zu bekommen; wobei es darauf ankommt zu verstehen, wie der psychedelische Raum gedacht werden muss in Beziehung zu anderen Räumen, in denen die menschliche Existenz sich bewegt. Der Philosoph Karl Popper sprach in diesem Zusammenhang von drei Welten: die Welten (oder Räume) des Physischen, Mentalen und Virtuellen. In seinem Vortrag im Gaia Media Forum am 10. Februar 2005 in Basel schlug Derix vor, dass auch eine «Vierte Welt», die der psychedelischen Erfahrung mit einbezogen werden sollte. Der nachfolgende Text ist ein Querschnitt des ersten Teils seines Vortrags, in dem Derix das Bedürfnis nach einer neuen Ontologie erläutert und aus seiner Sicht die philosophische Relevanz der Ayahuascaerfahrung beschreibt.

Ayahuasca ist eine pflanzliche Substanz, welche als Trank in Form einer eingedickten Abkochung zubereitet wird. Sie stammt aus den Wäldern des Amazonas. Ayahuasca ist jedoch keine einzelne Substanz, sondern setzt sich aus den Stängeln, Blättern und Wurzeln der Ayahuasca-Liane (Banisteriopsis caapi), des Chacruna-Strauches (Psychotria viridis, mit dem Wirkstoff DMT) und anderen, oft variablen pflanzlichen Zusätzen zusammen. Der Begriff Ayahuasca leitet sich aus der peruanischen Quechua-Sprache ab und bedeutet soviel wie «Liane der Geister» oder «Ranke der Seele».
Eine der bezeichnendsten Kritiken meines Buches über die psychedelische Vernunft (typischerweise von einem, der es nicht gelesen hatte) war die Frage, ob der Autor nichts Besseres zu tun hätte, als seine Zeit mit sinnlosen Egotrips zu vergeuden. Die Frage impliziert, dass alles besser wäre, als in sich selbst zu versinken und über seine tiefsten seelischen Regungen zu meditieren. Die Frage unterstellt ferner, dass dasjenige, was man in seinem psychedelischen Inneren vorfindet, keinerlei Wert für eine eventuelle Verbesserung der Welt haben könne. Am typischsten ist jedoch, dass mit dem Wort «Egotrip» etwas bezeichnet wird, worum es bei der durchlebten psychedelischen Erfahrung in der Regel gerade nicht geht: Es geht eben nicht um das Aufblasen des Ich. Der absolute Höhepunkt einer psychedelischen Reise besteht aus der Loslösung davon. Das Gelingen eines Trips fällt mit dem Verabschieden des Egos zusammen. Wenn es denn um «Aufblasen» gehen soll, dann in der Bedeutung einer aufgeblähten Illusion.
Mein Anliegen hingegen handelt von der tiefgreifendsten Botschaft, die wir aus den psychedelischen Höhen und Tiefen jener Welt emporheben können, von der wir bis jetzt annehmen, dass sie sich vornehmlich zwischen unseren Ohren entfaltet. Dabei behalten wir uns ausdrücklich die Möglichkeit vor, dass es keine Botschaft gibt und dass die psychedelische Reise in letzter Instanz nicht mehr als ein egoloser Trip ist. Ich will keine organisierte Reise in die Welt des Psychedelischen unternehmen (vorausgesetzt, dass hier überhaupt eine Organisation möglich ist), sondern eine Expedition aus dem Stegreif. Dabei führe ich dennoch eine nicht unbedeutende Ambition im Gepäck, nämlich das Vorhaben, die Konturen einer neuen Ontologie zu skizzieren.
Eine neue Ontologie oder Seinsphilosophie ist etwas, worüber wir gegenwärtig kaum zu sprechen wagen. Wir leben in einer Zeit, in der die Möglichkeit des Gewinnens einer höheren Bedeutung erfolgreich ins Reich der Fabeln verwiesen wird. Die Wissenschaft scheint von der Zweckursache elegant Abschied genommen zu haben, und wenn Wissenschaftler noch zum Staunen fähig sind, dann bezieht sich dies vor allem auf das Phänomen der Entfaltung von Komplexität auf allen möglichen Ebenen (kosmisch, evolutionär, anthropologisch) – eine Art des Betrachtens und Erklärens, die problemlos ohne Prinzipien der Zielgerichtetheit auskommt. Schliesslich bestand das Schockierendste und Befreiendste der Evolutionslehre darin, dass sie die Welt ohne die Annahme eines richtungweisenden Prinzips am Anfang und Ende der Reise erklärte.

Kartenhäuser
Das Aussprechen des Bedürfnisses nach einer neuen Ontologie ist von vornherein verdächtig. Aus grosser Distanz kann es einem Zeitvertreib von Menschen ähneln, die sich ihre Hände in der Misere der globalen Situation nicht schmutzig machen wollen. Die einfachste Art, sich vor gesellschaftlicher Verantwortung zu verkriechen, ist, sich in verbale Konstruktionen zurückzuziehen, die etwas von Weltverbesserung quasseln, aber inzwischen die physische Realität in einer Weise vor die Hunde gehen lassen, die sich kaum noch in Worte fassen lässt. Seit der Entlarvung der Religion als Opium für das Volk ist es eine Vorliebe der Intelligenz, sich an fatalistischen Kartenhäusern zu berauschen, die mit der Welt, über die sie etwas Sinnvolles sagen wollen, vor allem gemein haben, dass sie einzustürzen drohen.
Auf der einen Seite hält der Mensch mit dem Mut der Verzweiflung an den Spenden für Greenpeace und Amnesty International fest. Auf der anderen Seite gelingt es ihm nicht, seinen Argwohn zu zerstreuen, dass mit der Dekonstruktion höherer Prinzipien nicht alles erklärt sein kann. Es muss einen Sinn geben, eine Teleologie, einen allumfassenden Plan, einen Kosmischen Bauplan. In kühnen Momenten vermutet er, dass wir einen solchen kosmischen Plan, wenn er denn fehlt, wohl konstruieren müssen. Gerade über das, worüber man nicht sprechen kann, muss man seinen Mund aufreissen. Angesichts des drohenden Weltuntergangs grenzt Schweigen an Kriminalität. Kurzum, wenn es darum geht, das Thema einer neuen Ontologie zur Sprache zu bringen, stehen sich Anstand und die Bezichtigung des Egotrips diametral gegenüber.

Der Spiegel des Ayahuasca
Wenn ich in Gedanken zu dem Abend zurückkehre, an dem ich im Jahre 1990 in Brasilien zum ersten Mal Ayahuasca trank, so ergreift mich dasselbe Erstaunen wie damals. Mit Ayahuasca setzt man sich selbst aufs Spiel. Man kann sagen, dass Ayahuasca im allgemeinen von dem Grossen Spiel handelt, worin unablässig auf allen möglichen Ebenen (kosmisch, evolutionär, individuell) alles auf dem Spiel steht. Die erste Lektion von Ayahuasca lautet aber, dass das Spiel kein Spiel ist und dass es eine demütige Einstellung sowie das Kennenlernen des eigenen Platzes in dieser Welt und in dieser Zeit erfordert. Vielleicht ist dies in der Tat die wichtigste Erkenntnis. Vielleicht ist es das, warum sofort in den ersten Minuten zu mir durchdrang, dass Ayahuasca ein philosophisches Instrument par excellence sein kann. Ayahuasca unterweist einen über seinen Platz und seine Zeit. Mit der Stimme eines mal milden, mal erbarmungslosen Predigers reibt Ayahuasca einem unter die Nase, wer man ist, wo man ist, was man sein kann.
Mir ist klar, dass dies eine Offenbarung auch anderer Mittel sein kann. Ich muss bekennen, dass ich nur einen sehr kleinen Ausschnitt der psychedelischen Landschaft kenne. Dies ist auch der Grund, warum sich im Titel meines Buches der unbestimmte Artikel statt des bestimmten findet (eine statt die Kritik). Die Kritik der psychedelischen Vernunft müsste erst einmal eine erschöpfende Kartographie aller möglichen Zustände des menschlichen Bewusstseins umfassen. Meine Vermutung ist, dass eine solche Kartographie die Form eines Periodischen Systems der psychedelischen Erfahrungen annehmen könnte, worin einer der Parameter das Mass der Verformung eines eventuell vorhandenen spiegelnden Effekts ist. Meine Arbeitshypothese ist, dass Ayahuasca den Platz von Wasserstoff einnimmt. Ayahuasca als reiner Spiegel dessen, was es von einem und für einen zu sehen gibt. Das Spannende dieses reinen Spiegels ist, dass er uns an unserem Ort und in dieser Zeit ein Bild der Geschichte zeigen kann, die uns bis hierher gebracht hat. Die Epoche, in der die Menschheit zum ersten Mal ein wahres Bild ihrer selbst im Spiegel der Wissenschaft wahrzunehmen imstande ist, fällt bemerkenswerterweise mit der Verbreitung des Spiegels von Ayahuasca zusammen.

Komplexistenzialismus
Durch diesen Spiegel hindurch tretend ist die Frage gerechtfertigt, ob beides – das evolutionsbiologische Selbstbild des Homo sapiens und die Konfrontation mit dem Selbst durch Ayahuasca – in einer Ontologie zusammenkommen kann, die beides als Dimensionen ein und derselben Bewegung begreift. Das Thema «Versöhnung», das auf der politischen und philosophischen Tagesordnung beinahe nicht mehr vorkommt, könnte dadurch eine seinsphilosophische Grundlage bekommen. Der Moment, wo der Mensch sieht, wer er ist, würde mit der Überzeugung konvergieren, es nun auch endlich werden zu können. Vor dem wahren Bild im Spiegel stehend begreifen wir, dass etwas fehlt, dass es erst dann vollständig wird, wenn wir hindurch schreiten und beide Seiten der Reflexion (Sein und Werden) als zwei Seiten derselben universellen Medaille begreifen. Durch einen Spiegel zu schreiten bedeutet, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Aber dann: Der Spiegel wird erst dadurch möglich, indem viel aufs Spiel gesetzt wird. Nie war der Spiegel klarer als heute, aber es stand auch nie so viel auf dem Spiel. Eingedenk des heiligen Speers von Parsifal müssen wir aus der Not eine Tugend und aus der Erkenntnis dessen, dass alles auf dem Spiel steht, den Anfang einer spielerischen Lösung machen. Wir brauchen nur die Hand auszustrecken, um zu sehen, dass gleichzeitig Hände zu uns ausgestreckt werden.
Der wahre Tanz der Veränderung ist ein Tanz auf beiden Seiten des komplexistenzialistischen Spiegels. Komplexistenzialismus könnte der Name einer Bewegung sein, die dem erfahrungsmässigen Charakter einer neuen Ontologie gerecht würde. Nietzsches Seiltänzer bewegt sich nicht nur auf einem schwankenden Seil hin zu einer noch unsichereren Gegenseite – er balanciert vielmehr auf eine Messers Schneide, die wir als das membranartiges Übergangsgebiet zwischen den zwei Seiten dieses imaginären Spiegels begreifen müssen. Dieses Gebiet scheint überall vorhanden zu sein, aber nirgendwo so prominent wie im Gehirn der Spezies, die sich im Prozess der Selbstkonfrontation als das noch nicht festgestellte Tier erkennt. Seit kurzem ist der Mensch definierbar als das Wesen, das sich im Spiegel tatsächlich erkennen kann (und darüber hinaus auch immer besser in der Lage ist zu sehen, was er sein könnte).
Neben den existenziellen Fragen am Ende der Kritik der reinen Vernunft von Kant – Was kann ich wissen?, Was darf ich hoffen?, Was soll ich tun? – müsste mehr denn je zuvor die Frage «Was will ich sehen?» zuoberst auf der Tagesordnung unserer politischen und philosophischen Praxis stehen. Ohne eine grundlegende Reflexion über die Frage, was es bedeutet, zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts visionär zu sein, haben die Spekulationen über eine psychedelische Aufklärung in der Tat keinerlei Wert. Selten hat eine Generation so viel gesehen wie die unsere, aber selten auch sah sie so wenig, wie es weitergehen soll.

Aus dem Niederländischen von Thomas Hartwig, Den Haag

Govert Derix ist Philosoph, Unternehmer und Schriftsteller. Sein Buch «Ayahuasca, eine Kritik der psychedelischen Vernunft» ist das Resultat jahrelanger Forschung und ein Plädoyer für die Ayahuasca-Erfahrung. Einfühlsam und überzeugend zeigt er wie eine Reise in die Welt von Ayahuasca verlaufen kann. Mit seinen Beschreibungen liefert er auch all jenen, die Ayahuasca bereits kennen, einen spannenden Reiseführer.
Govert Derix, «Ayahuasca, eine Kritik der psychedelischen Vernunft», Solothurn 2004

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