Triff das Leben, wo es ist

Von Lioba Schneemann

Das Leben findet im Jetzt statt. Wir handeln und denken weder im Gestern noch im Morgen. Darum der Rat: Sei da, wo du eh schon bist. Wer dies täglich übt, wird dauerhaft glücklich.

Der Mensch will glücklich sein. Das ist das höchste Ziel eines jeden, egal ob reich oder arm, schwarz oder weiss, klein oder gross. Die Glücksformel, die uns spirituelle Lehrer seit Jahrtausenden raten, tönt banal: Lebe im Jetzt. Denn das ist die Grundlage allen Glücks. Dann gewinnst du die totale Freiheit.
«Wir müssen lernen dort zu sein, wo das Leben stattfindet. Und das ist genau hier. Das «Jetzt» ist der einzige Moment, den wir haben. Er ist so flüchtig und doch so kostbar. Deshalb sollten wir ihm unsere volle Aufmerksamkeit schenken», betont Fred von Allmen, buddhistischer Meditationslehrer und Buchautor.
Das Dasein bestehe aus einzelnen Momenten, einem Bruchteil von Zeit. «Es ist eine sehr feine Linie, zwischen der Vergangenheit, die restlos verschwunden ist und einer Zukunft, die noch nicht begonnen hat.» Diese Linie sei so fein, dass wir sie kaum wahrnehmen. Die Frage sei nur: Können wir uns dieser Tatsache öffnen?

Die Zukunft gibt es nicht

Im Moment leben, achtsam sein, ist ein alte Weisheit. Nun wird, glücklicherweise, dieses Wissen wieder neu «entdeckt». So schrieb schon der Mystiker Meister Eckhart: Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht, das notwendigste Werk ist stets die Liebe.
Der Weg zum Lebensglück tönt so simpel, dass man es kaum glauben mag. Wie schwer es jedoch fällt, im gegenwärtigen Moment zu verweilen – ohne zu urteilen, ohne sich in Gedanken oder einer Tätigkeit zu verlieren und ohne sich abzulenken – kann jeder sofort ausprobieren.
Setzen Sie sich auf einen Stuhl und schliessen Sie die Augen. Achten Sie für einige Minuten nur auf ihren Atem. Spüren Sie, wie er kommt und geht, ein kalter Luftzug in der Kehle, das Auf und Ab der Bauchdecke. Lassen Sie aufkommende Gedanken, Bilder, Empfindungen kommen und gehen, lassen Sie sie wie Wolken am Himmel vorbeiziehen.
Hand auf’s Herz – wie lange schaffen Sie das, ohne wieder einem neuen Gedanken nachzuhängen? Eine Sekunde, eine Minute?
Die Arbeit mit dem Atem wird in vielen traditioneller Meditationstechniken geübt. Man schult damit seine Konzentration und die Sammlung des Geistes. Einzig der Atem dient als Anker zum Zurückkommen ins Jetzt.
Warum fällt das nur so schwer? Unser Geist schlägt seine Kapriolen, genannt «Denken». Es geht zu wie in einem Affengehege, laut und geschäftig. Fortlaufend will sich der Geist Erinnern, Planen, Wünschen, Bewerten. Dies verursacht jedoch unser ganzes Leiden.
Eckhart Tolle, bekannter Fachmann des «Jetzt», rät uns darum, der Vergangenheit und Zukunft nur kurze Besuche abzustatten, nur soweit, wie es die praktischen Dinge des Lebens erfordern. Das dauernde Erschaffen der Zeit sei menschlicher Wahnsinn. Man könne nicht in der Vergangenheit oder in der Zukunft leben, denn sie existiere gar nicht: Nichts ist je in der Vergangenheit geschehen – es geschah im Jetzt. Nichts wird je in der Zukunft geschehen, es wird im Jetzt geschehen.
Klar formuliert Tolle diese Tatsachen: «Was du mit Vergangenheit bezeichnest, ist eine in deinem Verstand aufbewahrte Erinnerung an das frühere Jetzt. Die Zukunft ist eine Projektion des Verstandes.»

Denken – eine Illusion

Denken ist nicht schlecht. Kein spiritueller Lehrer rät dazu, den Versuch zu unternehmen, es abzustellen. Unser Gedankenstrom reisst uns jedoch mehr mit, als wir es wahrhaben wollen. Und wir glauben irrwitzigerweise, wir hätten unser Denken unter Kontrolle. «Die Gedanken denken uns», stellt vielmehr Eckhart Tolle fest.
Dass wir in der Lage sind, etwas zu tun, dabei an etwas ganz anderes zu denken, ist zwar ein grosser Vorteil. Dadurch sind wir sehr effizient. Wir können Szenarien entwickeln, Gefahren erkennen, in Varianten denken, uns um etwas sorgen und gezielt planen. «Weil wir ständig mit Denken beschäftigt sind, laufen wir aber Gefahr, nicht mehr wahrzunehmen, was gerade geschieht», erklärt Stephan Ebner, MBSR-Lehrer in Basel.
«Und dass wir drei Dinge gleichzeitig machen können, wird zunehmend zum Fluch».
Die Ereignisse erleben wir also nicht so wie sie sind, sondern werden gefiltert. Gedanken verbinden sich mit Erinnerungen, wir bewerten und vergleichen. Unsere vorgefertigten Meinungen werden einfach reproduziert. Oder wir projizieren etwas in andere Menschen hinein, das wir zu sehen glauben.
Unsere Energie verpufft im Planen unserer Zukunft oder im Ausmalen, was wäre, wenn dies oder jenes eintreffen wird. Diese innere Geschäftigkeit artet rasch in Stress und Unruhe aus.
Die Momente des Lebens – das Leben – bekommen wir gar nicht mehr richtig mit. So kommt es vor, dass wir bei einem Sonnenuntergang sitzen, aber nach kurzer Zeit des Staunens schon wieder vergleichen, ob der vom letzten Jahr nicht doch schöner war. Und als Tourist befinden wir uns vor lauter «Knipsen» der Sehenswürdigkeit gar nicht richtig am Ort des Geschehens.
Was wir tun können, ist, sich von den Gedanken zu distanzieren. Das gelingt, indem wir eine gewisse Beobachterrolle einnehmen, uns innerlich distanzieren. Immer wieder versuchen, im Geiste einen Schritt zurückgehen und sich selbst, seine Gedanken, Gefühle und Empfindungen einfach nur anzuschauen, ohne ihnen Energie zu geben.

Den Anfängergeist schulen

Den einzelnen Moment achtsam und ohne zu urteilen wahrnehmen, führt dazu, dass man sich mehr mit sich selber befasst. Man lernt, sich zu spüren, wahrzunehmen, was innerlich vor sich geht. Man kann herausfinden, warum man auf etwas in einer bestimmten Art und Weise reagiert und was einen wirklich antreibt. Das hat weitreichende positive Konsequenzen im Umgang mit anderen und mit sich selbst. Nur wer sich kennt, kann seine Grenzen einschätzen, überfordert sich nicht und kann auf seine Bedürfnisse Rücksicht nehmen, «brennt nicht aus».
Im Alltag sind wir uns unserer Reaktionen oft nur wenig bewusst. Wie würden wir aber reagieren, wenn wir fühlten, dass hinter unserem Nörgeln die Fürsorge um den Sohn steckt und kein diffuser Ärger? Wie sähe die Diskussion beim Zubett-Gehen zwischen Mutter und Tochter aus, würden beide sich ihrer wahren Beweggründe bewusst sein?
Ein achtsamerer Umgang bewahrt uns davor, immer wieder in die gleichen Muster zu verfallen. Das meinen spirituelle Lehrer, wenn sie von Freiheit sprechen. Stephan Ebner: «Wenn ich achtsam bin, kann ich in schwierigen Situationen freier wählen, wie ich mich verhalten kann. Ich bin nicht mehr in Gedankenschlaufen oder automatischem Reagieren gefangen. Ich kann mich innerlich in positiver Weise ausrichten.»

Jede Sekunde üben

Der Prozess des inneren Wachstums verlangt viel Engagement für sich selbst. Fred von Allmen betont: «Einfach nur im «Jetzt» sein, reicht nicht. Vielmehr muss man lernen und begreifen, wie sein Geist funktioniert, und wie er das eigene Leiden verursacht. Erst dann ändert sich wirklich etwas.» Die Achtsamkeit, so sagte einst Buddha, ist nur soweit gut, wie sie der Erkenntnis dient. Das Einüben von Achtsamkeit verlangt stetes Bemühen, Willen und Disziplin im Alltag. Manchmal sei es aber auch nur eine Frage des Sich-Erinnerns.
Achtsam-Sein übt man am einfachsten, indem man beobachtet, in welchen Situationen man unachtsam ist. Und, indem man es vermeidet. Wir sind unachtsam, wenn wir mehrere Dinge gleichzeitig tun oder automatisch, wenn wir vergleichen und bewerten. Wir sind unachtsam, wenn wir Grübeln oder beim Tun bereits gedanklich am Ziel sind.
«Den Anfängergeist schulen», rät Stephan Ebner. «Wenn ich esse, etwas erlebe, als wäre es das erste Mal, werde ich mit der Zeit genügsamer.» Einfache Dinge erlebt man zunehmend als erfüllende Erlebnisse. Die Erwartung auf etwas Neues hält uns wach. Wachsam sind wir auch dann, wenn wir einen «gesunden Respekt vor Unsicherheit» haben. Viele gehen dafür an ihre Grenzen, erklimmen die Eiger-Nordwand oder springen in die Tiefe. Unnötig für das Leben im Jetzt. Denn das lässt sich jede Sekunde üben. Jetzt.

© 2013 Lioba Schneemann – Dieser Artikel ist zuerst im Zeitpunkt 128erschienen, Abdruck mit freundlicher Genehmigung

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