Rupert Sheldrake und die Entstehung der Arten

Von Susanne G. Seiler

Als der Biochemiker und Wissenschaftsphilosoph Rupert Sheldrake 1981 «A New Science of Life» («Das schöpferische Universum») veröffentlichte, waren einige seiner Kollegen über dessen Inhalt derart aufgebracht, dass sie die renommierte Zeitschrift Nature aufforderten, es öffentlich zu verbrennen. Dennoch bleibt der unkonventionelle Brite seit Charles Darwin der einzige, der mit einer umfassenden Theorie zur Entstehung der Arten aufwartet, weshalb er ebenso populär wie umstritten und einer der meist zitierten Biologen überhaupt ist.
Seine «Theorie der morphogenetischen Felder» geht davon aus, dass wir uns nicht in einem luftleeren Raum entwickeln, sondern uns aus einem bereits organisierten System entfalten, dass er den morphogenetischen Keim nennt. Die Morphogenese ist biochemischer Natur und findet bereits im Kernplasma statt. Alles andere ist nicht so sehr Kampf als vielmehr Gewohnheit, wie Sheldrake argumentiert. Seine morphogenetischen Felder nennt er «Wahrscheinlichkeitsstrukturen», eine Art sich selbst erfüllende Matrizen. Das heisst zwar nicht, dass jede Form in lebenden Organismen vorbestimmt ist, aber doch die meisten, denn sie unterliegen einem Einfluss aus der Vergangenheit, der sie einem Wiederholungsmuster ausliefert. Morphogenetische Felder zieht es zu einem Endpunkt hin, der auf undefinierbare Weise in ihnen angelegt ist: In der Eichel ist die zukünftige Eiche enthalten, aus einem Giraffenembryo erwächst eine Giraffe usw.
Analog zum magnetischen Feld ist die Idee morphogenetischer Felder von der Entstehungsbiologie durchaus gut aufgenommen worden, auch wenn niemand weiss, wie so ein Feld geartet ist. Sheldrake sieht darin Räume einer der Physik noch unbekannten Art. Wie das kollektive Unterbewusste Jungs enthalten auch sie eine Art gemeinsames Gedächtnis, aus dem jedes einzelne Wesen der Gattung schöpfen kann und zu dessen weiteren Ausformung es selbst auch beiträgt. Dieses Feld wirkt nicht durch die ewigen mathematischen Formeln eines fernen Deus ex machina, sondern durch die reellen Gestalten, die von früheren Mitgliedern ihrer Art angenommen wurden. Je öfter sich dieses Entwicklungsmuster wiederholt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass es sich auch in Zukunft wiederholen wird. In diesem Sinne sind die charakteristischen Züge einer bestimmten Gattung Gewohnheiten, die sich nicht nur unter dem Einfluss von Feldern bilden, sondern auch von Feldern gespeichert und über Felder vererbt werden.
Nun ist das Wesentliche an einer neuen wissenschaftlichen Theorie bekanntlich, inwiefern sie den Wissensschatz bereits beantworteter Fragestellungen um weitere Erklärungen bereichern kann. In seinem zweiten Buch («Das Gedächtnis der Natur») nimmt der brillante Harvard- und Cambridge-Absolvent die unerklärten Widersprüche seines Fachs aufs Korn. Ende der Sechzigerjahre, als er sein Studium aufnahm, begannen unsere Wissenschaftler gerade erst das Korsett viktorianischer Kausalität abzulegen. Aus heutiger Sicht befindet sich das Universum jedoch in einem Evolutionsprozess, was die einleuchtende Folgerung zulässt, dass es zur Zeit des Urknalls noch keine physikalischen Gesetze gab. Diese konsolidierten sich erst mit dem langsamen Abkühlen der Ursuppe, als erste chemische und physikalische Prozesse ihren Anfang nahmen. Wie Sheldrake betont, müssten sich in einem evolvierenden Universum auch die Organisationsprinzipien aller Systeme entwickelt haben. Das stösst natürlich auf Widerstand, denn wissenschaftliche Materialisten argumentieren, gerade diese grundlegenden physikalischen Prinzipien hätten es dem Kosmos erlaubt, in Erscheinung zu treten.
Der Gedanke, das Organisationsprinzip der Materie sei ein Feld, wurde in den zwanziger Jahren von den Biologen Hans Spemann, Alexander Gurwitsch und Paul Weiss aufgegriffen. Sie nennen es «Entwicklungsfeld», «embryonales Feld» oder «morphogenetisches Feld». In den Dreissigern postuliert C.D. Waddington «Individuationsfelder», die der Mathematiker René Thom weiter entwickelt. Bei ihm nimmt die stabile Form, auf die ein System sich hin entwickelt, die Gestalt eines Attraktors oder eines Attraktionsbassins im morphischen Feld an. Sheldrake sieht darin etwas Animistisches, das sich durch einen von dem Systemtheoretiker Hans Driesch «Entelechie» genannten Prozess aus sich selbst heraus entfaltet. Wie beim Urknall stellt sich auch durch dieses theoretische Gerüst die Frage nach der Initialzündung, dem göttlichen Funken. Das grosse Mysterium bleibt bestehen.
Für Sheldrake geht es vorrangig darum, die Wirkung seiner Theorie zu beweisen. Er nennt sie «morphische Resonanz» und untersucht sie am Beispiel von Kristallen und ihrer symmetrischen Entwicklung, an gewissen Faktoren innerhalb der biologischen Vererbungslehre und am instinktiven Verhalten der Tiere. Der Kristallisationsprozess vielerlei Arten von Kristallen ist detailliert beschrieben worden, doch niemand weiss, weshalb sie ihre unzähligen Formen annehmen. Auch wissen wir wenig darüber, wie ein Kristall als Ganzes wächst. Ist dieses Wachstum nun vorgegeben oder zufällig? Sheldrake meint, wir können davon ausgehen, dass eine Resonanz zwischen den Feldern symmetrischer Strukturen besteht und dass diese Eigenresonanz für die Symmetrie von entscheidender Bedeutung ist. Speichern Kristalle, Pflanzen oder Tiere in ihren Zellen also Erinnerungen? Und wie ist das bei uns?
Dem berühmten Linguisten und Semantiker Noam Chomsky verdanken wir die Einsicht, dass Sprache im Bewusstsein wächst, wie die physikalischen Systeme des Körpers wachsen, was wir an den erstaunlichen sprachlichen Lernfähigkeiten unserer Kinder sehen können oder auch daran, dass wir mit der Sprache auch immer ein wenig die Persönlichkeit wechseln. Um diesen Entwicklungsprozess an der Hypothese der morphischen Resonanz zu überprüfen, schlug der Gewinner eines von der britischen Zeitschrift New Scientist ausgeschriebenen Wettbewerbs vor, englische Versuchspersonen sollten unter standardisierten Bedingungen zwei kurze türkische Kinderreime auswendig lernen. Einer davon war traditionell und Millionen Türken bekannt, der zweite entstand durch Umstellung der Worte des ersten. Wurde das Auswendiglernen des echten Reims durch die morphische Resonanz von Millionen Türken unterstützt, müsste er wesentlich einfacher auswendig zu lernen sein.
Schliesslich wurden japanische Verse gewählt, die der japanische Lyriker Shuntaro Tanikawa dem Wissenschaftler zur Verfügung stellte. Zweiundsechzig Prozent der Versuchspersonen konnten sich eine halbe Stunde nach dem Einprägen am besten an den echten Vers erinnern, ein hoch signifikantes Resultat. Versuche mit Hebräisch, Persisch und dem Morse-Alphabet folgten, ebenfalls mit ermutigenden Ergebnissen.
Nach den Menschen wandte sich der findige Biologe den unbestechlichen Tieren zu. An einem solchen Versuch nahm sogar die offizielle Schweiz teil. Die Armee liess 1996 einen Taubenschlag nach Holland fliegen – damals, als sie als eine der letzten Armeen der Welt noch Tauben hielt. Man liess die patriotischen Vögel zusammen mit niederländischen Artgenossen von Bord eines Schiffs aus fliegen, um zu sehen, ob und wie sie nach Hause fanden, obwohl sie das eigentlich nicht sollten. Nicht nur wurden die Schweizer Tauben absichtlich verwirrt: Woher wissen Tauben überhaupt, wie sie nach Hause kommen? Und wie machen es die Zugvögel? Die Wissenschaft gibt bisher keine überzeugenden Antworten auf diese Fragen, doch unsere Tauben fanden heil zurück.
Nichts aber war spektakulär oder populär genug, bis Sheldrake schliesslich auf den Hund kam. Tiere lügen nicht. Sie können keine Forschungsergebnisse manipulieren und nur sehr begrenzt erwünschtes Verhalten produzieren. Das Video von der Frau, deren Hund vor laufender Kamera bewies, dass er genau wusste, wann seine Herrin nach Hause fuhr, gleich welchen Heimweg und welches Verkehrsmittel sie wählte, ging um die Welt. Hundebesitzerin Pamela Smart wurde Rupert Sheldrakes erste Forschungsassistentin. Seither haben sich einige Tausend Laien und Fachleute – darunter viele Schulkinder – bemüht, ihm bei seinen Untersuchungen behilflich zu sein. Auch der Schweizer Tierschutz machte mit in Form eines detaillierten Fragebogens zu den telepathischen Fähigkeiten von Haustieren. Die Teilnahme war überwältigend.
Es wurde auch weiter «am Menschen» geforscht, wie bei den «Starrversuchen», wo eine Versuchsperson anzugeben versucht, ob die zweite sie von hinter anstarrt oder nicht. Dabei sitzt man einfach in einigen Metern Abstand hintereinander (für den Hausgebrauch), aber auch mit Spiegeln oder durch geschlossene Fenster wird gearbeitet. Zwanzig Versuche pro Serie genügen. Leider wird es ohne weiteren Anreiz (wie z.B. Bezahlung) schnell langweilig. Beim ersten Mal sind die Resultate oft verblüffend, vor allem bei Kindern, die spontaner antworten und weniger häufig den Umweg über den (ver)urteilenden Intellekt wählen als Erwachsene.
Wissen Sie, wer dran ist, wenn Ihr Telefon klingelt? Wachen Sie auf, ehe Ihr Wecker abgeht? Haben Sie oder Ihre Haustiere manchmal Vorahnungen (wegen Unfälle, Geburten, Rückkehr von Reisen usw.)? Sind Sie eine stillende Frau, deren Milch anfängt auszulaufen, wenn es bald Zeit für Babys Mahlzeit ist? Originell wie immer, zeigt Sheldrake uns, dass wir unseren subtileren Wahrnehmungen Glauben schenken dürfen. Die Phänomene, die er erörtert, sind universell und tragen dazu bei, unsere Sicht von uns Selbst und der Welt zu erweitern. Dabei stehen Natur und Kosmos im Vordergrund, in deren Mitte jedoch der Mensch, verbunden mit allem, was ihm lieb und gewohnt ist.

Rupert Sheldrake studierte Naturwissenschaften in Cambridge und als Frank Knox-Stipendiat Philosophie in Harvard. Er promovierte 1967 mit einem Ph.D. in Biochemie in Cambridge und war Fellow des Clare College, Cambridge, wo er bis 1973 als Direktor der Studien in Biochemie und Zellbiologie diente. Als Untersuchungsbeauftragter der Royal Society unternahm er Studien in Cambridge zur Entwicklung von Pflanzen und dem Alterungsprozess von Zellen. Von 1974 bis 1978 war er Oberster Pflanzenphysiologe am Principal Plant International Crops Research Institute for the Semi-Arid Tropics (ICRISAT) in Hyderabad in Indien, wo er an der Physiologie tropischer Gemüseernten arbeitete und bis 1985 Konsultierender Physiologe war. Er hat mehr als fünfzig Arbeiten in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert.
Sheldrake verbrachte anderthalb Jahre in Shantivanam, damals der Ashram von Pater Bede Griffiths in Südindien, wo er «A New Science of Life» schrieb. Sein Buch «Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten» wurde 1994 vom British Institute for Social Inventions zum Buch des Jahres gewählt. «Der siebte Sinn der Tiere» machte ihn international bekannt; mit seinen Videos über Hunde und Katzen, die wissen, wann ihre Besitzer nach Hause kommen, war er nicht nur zu Gast bei Oprah Winfrey sondern auch bei unserem Kurt Aeschbacher.
In England gewann das Buch «Der siebte Sinn der Tiere» 1996 den British Scientific and Medical Network Book of the Year Award. Im Juli 2000 residierte Sheldrake als H. Burr Steinbach Visiting scholar am Woods Hole Oceanographic Institution in Massachusetts. Er ist Fellow des Institute of Noetic Sciences in San Francisco, verheiratet mit der Musikerin Jill Purce, hat zwei Söhne und lebt in London. Mehr zu seiner Arbeit und Person finden Sie auf www.sheldrake.org englisch und deutsch.

Wo nicht anders angegeben, sind Rupert Sheldrakes Bücher beim Scherz Verlag, Frankfurt, erschienen.
«Das schöpferische Universum», 1984 (Goldmann TB 11478); «Das Gedächtnis der Natur – Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur», 1990; «Die Wiedergeburt der Natur – Wissenschaftliche Grundlagen eines neuen Verständnis der Lebendigkeit und Heiligkeit der Natur», 1991; «Sieben Experimente, die die Welt verändern könnten – Anstiftung zur Revolutionierung des wissenschaftlichen Denkens», 1994; «Der siebte Sinn der Tiere – Warum ihre Katze weiss, wann Sie nach Hause kommen, und andere unerklärte Fähigkeiten der Tiere», 1999; «Der siebte Sinn des Menschen – Gedankenübertragung, Vorahnungen und andere unerklärliche Fähigkeiten», 2003
H.P. Düerr und Th. Gottwald (Hrsg.), Rupert Sheldrake in der Diskussion. «Das Wagnis einer neuen Wissenschaft des Lebens», 1997.
Mit dem Theologen Matthew Fox: «Engel – Die kosmische Intelligenz», Kösel, München 1998; «Die Seele ist ein Feld – Der Dialog zwischen Wissenschaft und Natur», O.W. Barth, München 1998.
Mit dem Ethnobotaniker Terence McKenna und dem Mathematiker Ralph Abraham: «Denken am Rande des Undenkbaren – Über Ordnung, Physik und Metaphysik, Ego und Weltenseele», 1992, 1995 Serie Piper 1690; «Cybertalk – Mutige Anstösse für die Vernetzung von wissenschaftlichem Fortschritt und Heilung der Erde», 1998.

Susanne G. Seiler studierte Soziologie und Linguistik. Sie lebt und arbeitet als Autorin, Übersetzerin und freie Künstlerin in Zürich. dakini@dakini.ch

www.sheldrake.org

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