Der Somnambule Salon

Von Micky Remann und Ulrich Holbein

Im Rahmenprogramm des Internationalen Symposiums zum 100. Geburtstag von Albert Hofmann LSD – Sorgenkind und Wunderdroge, im Januar 2006 in Basel, präsentierten der Schriftsteller Ulrich Holbein und der Medienkünstler und Kulturschaffende Micky Remann einen thematisch freien, von Tages- und Nachtzeit unabhängigen Dialog. Ein Jahrsiebt danach legen die beiden nun eine leicht bearbeitete Mitschrift des Mitschnitts von damals vor.

Micky Remann
What about the Argentinian broadcasting team – are you ready?

Argentinischer Kameramann
All right, ready!

Micky Remann
Danke, das war das Zeichen der argentinischen TV-Regie, dass wir jetzt live auf Sendung sind. Buenos Aires sitzt versammelt vor den Fernsehschirmen, jeder winkt noch einmal Tante Juanita und Onkel Juan zu, die es kaum erwarten können, heute zugegen zu sein, wenn der Somnambule Salon seine Pforten öffnet, die Pforten der Wahrnehmung, von denen wir schon so viel gehört haben.

Es freut uns, dass zusätzlich zu den Menschen, die hier sichtbar auf ihren Stühlen sitzen, mindestens eben so viele anwesend sind, die wir nicht sehen, weil sie sich entschieden haben, den Somnambulen Salon im unphysischen Zustand zu erleben. Was der Somnambule Salon beinhaltet und wofür er gut ist, werden wir aber erst im Laufe des Somnambulen Salons erfahren.

Ulrich Holbein ist der eine Somnambulist, der andere bin ich, das heisst, wir sind zu zweit und wir machen das Gegenteil von Stand-Up-Comedy, nämlich Sit-Down-Comedy. Ihr könnt euch, während ihr lacht, getrost hinsetzen und dann beim Lachen einschlafen, das gehört zu den Charakteristika des Somnambulen Salons.

Noch eine gute Nachricht: während ihr schlaft, braucht ihr noch nicht einmal zu lachen. Sollte es lustig werden im Sinne von funny ha ha, hätten wir das Thema verfehlt. Das ist eine ernsthafte, Ernst zu nehmende Veranstaltung, zu der wir qualifiziert sind, weil wir als erste und zweite Vorsitzende der Schweizer Sektion der Internationalen Deutschen Vereinigung anerkannter Scharlatane zu euch sprechen. In dieser Funktion sind wir befugt, alles, was an diesem Kongress wesentlich oder unwesentlich ist, auf die Spitze zu treiben gemäss unserem jeweiligen Lebensmotto.

Ulrich Holbein hat sein Motto mitgebracht und ich meins. Ich verrate mein Motto zu erst, es lautet: Erst übertreiben, dann langsam steigern!’ Das ist die eine Hälfte der hier versammelten Wahrheitsverkündung, die andere Hälfte sitzt somnambul, körperlich, physisch, mystisch, seelisch neben mir, in Gestalt von Ulrich Holbein, der ein grossartiges Motto in den Ring wirft, welches da heisst, ich darf zitieren: ‘Abweichen, egal wovon!’ Oder als Imperativ: ‘Weiche ab, egal wovon!’?

Ulrich Holbein
Nein.

Micky Remann
Entschuldige, möchtest du Wortlaut oder Sinngehalt deines Mottos selbst erläutern?

Ulrich Holbein
Es war ein bisschen falsch zitiert. Es heisst nicht: ‘Weiche ab’, sondern ‘Weich ab.’

Micky Remann
Weich ab?

Ulrich Holbein
‘Weich ab, egal wovon!’ Damit nicht ‘e’ und ‘a’ aufeinander stossen, weil das einen sogenannten Hiatus ergäbe. Zwei Vokale dürfen nicht aufeinander stossen. ‘Weiche ab’ – nein, so soll es nicht heissen. Richtig ist: ‘Weich ab, egal wovon!’

Micky Remann
Wenn du dazu aufrufst, abzuweichen, egal wovon, möchte ich hiermit von der Hiatus-Regel abweichen, die das Aufeinanderstossen zweier Vokale verbietet. Also weiche ich ab – nicht: ‘weich ich’ ab – von dieser weichlichen Phonetik und sage: ‘Weiche ab!’

Ulrich Holbein
Tue dies, und …

Micky Remann
Nicht: ‘tu dies’?

Ulrich Holbein
Nein, ‘dies’ fängt doch nicht mit einem Vokal an.

Micky Remann
Aber ‘dies’ hat vorne ein weiches ‘t’, das entfällt nach der 3. Lautverschiebung, die in ungefähr 300 Jahren zu erwarten ist. Dann liegen die Vokale vorne und hinten blank und es wird heissen: ‘Tu ies’ – also wie das Reiseunternehmen, nein, wie der Plural von mehreren gleich lautenden Reiseunternehmen. Das heisst, in Zukunft reisen wir viel und die Hiatus-Regel wird entkräftet.

Möglicherweise ist nicht allen Versammelten klar, warum sie hier versammelt sind. Das hängt mit der Natur des somnambulen Zustandes zusammen, der sich dadurch auszeichnet, dass alles, was ihr hier erlebt, in der Innenwelt einer gemeinsamen Traumprojektion geschieht. Diejenigen, die denken, sie seien wach, träumen eben dieses. Diejenigen, die im Traum denken, sie seien im Traum erwacht, träumen, dass sie im Traum erwacht seien, übersehen aber, dass es nicht stimmt. In der luziden Traumforschung ist dieses Phänomen als ‘falsches Erwachen’ bekannt und berüchtigt. Wie oft liegen wir schlafend, träumend im Bett, wachen auf und denken: ‘Scheisse, ich muss auf Toilette!’ Aber irgendwie wird nichts draus, man kommt nicht hoch und ausserdem kommen Menschen durch die Projektion gelatscht …

(eine Dame läuft vor dem Videobeamer vorbei, ihr Schatten verdeckt die den Dialog begleitenden psychedelischen Farblichtspiele)

… dann wird der Traum vom Thema abgelenkt und das Thema vom Traum und plötzlich bin ich in einem ganz anderen Feld gelandet und denke: irgendetwas ist faul hier, ich muss immer noch pinkeln, komme aber weder aus meinen Schlafzustand heraus, noch aufs Klo, und dann gibt es den Moment der Erkenntnis, in dem wir feststellen: ‘Aha! Ich komme deswegen nicht aus dem Bett, weil ich immer noch im Traum bin und nur geträumt habe, aufgewacht zu sein.’

Das ist der typische Fall des falschen Erwachens und in Anlehnung an Adorno können wir konstatieren: Es gibt kein richtiges Erwachen im Falschen! Schon gar nicht im Somnambulen Salon, wo wir zwischen falschem und richtigem Erwachen prinzipiell nicht unterscheiden. Falls es ein Erwachen gibt, ist dieses falsch. Punkt. Richtig ist derjenige Zustand, welcher mit traumhafter Sicherheit im Schlafwandel verbleibt. Wir sind Protagonisten und Exponenten der Philosophie der Wiedervereinigung von Wandel und Schlafwandel, denn dort gehen beide in einer Gesamtsphäre auf, aus der es kein Entrinnen gibt. Jeglichem Wachzustand gegenüber sind wir skeptisch eingestellt.

Diejenigen von euch, die nun meinen: ‚Meine Güte, was labern die für’n Scheiss!’, und wollen aufstehen und schnell rüber zum Konzert mit dem Starsounds Orchestra, können dies gerne tun, oder können zumindest so tun, als ob sie es täten. Die werden aber feststellen, dass, während sie drüben im Saal zu wummernden Gongs und Bässen abtanzen, ein Teil von Ihnen immer noch hier auf dem Stuhl sitzt und weiter träumt. Denn das Erwachen, das sie zum Starsounds Orchestra hat bringen wollen, war ein falsches Erwachen, wohingegen das Weiterschlafen auf diesen Stühlen real ist.

(Applaus)

Wir sind auch überzeugt, dass alle scheinbar unbesetzten Plätze hier im Auditorium in Wahrheit voll besetzt sind, sogar überbesetzt. Es war ja klar, dass dieser Kongress mehr Leute anziehen würde, als in ganz Basel Platz haben und Betten finden können. Ähnlich ist es mit dem Somnambulen Salon. Ihr, die ihr hier sitzt, seid eine auserwählte, proto-erleuchtete Minderheit, die die seltene Chance bekommen hat, sich mit den eigenen, körperlichen Ärschen auf die freien Stühle zu setzen. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viele disinkarnierte, ausserkörperliche Wesenheiten sich in der Warteschlange vor den nicht besetzten Plätzen drängeln und schupsen, weil sie mit dabei sein wollen, weil auch sie im Zustand des falschen Erwachens schlafend hören wollen, was hier passiert.

In manchen Kongressbeiträgen wird ja behauptet, LSD sei ein Wunderheilmittel gegen illuminative Impotenz, das Viagra für unter Erleuchtungsmangel Leidende. Dieses Phänomen wollen wir näher untersuchen, weil es tagelang zu kurz gekommen ist und wir Somnambulisten das Sprachrohr aller zu kurz gekommenen Themen sind. Im Schlaf kommen ja meist die Themen zu kurz, die am Tag zu lang gekommen sind und umgekehrt. Und jedem von uns geht es doch so wie mir – nein, stimmt eigentlich nicht, oder vielleicht doch, aber wenn man drei Tage lang in jedem fünften Satz LSD hört, braucht man Drogen, um wieder runter zukommen.

Als ein mit allen Weihwassern vollgesogener Gehirnschwamm ist eine geradezu heroische Erkenntnisenergie erforderlich, um den ganzen Weisheitskram somnambul wieder auszuquetschen und abzusondern. Für die Umsetzung dieses Vorhabens haben sich Ulrich und ich zur Verfügung gestellt, wobei unser Ansatz im Somnambulen Salon lautet: wenn wir schon unsere psychedelisch aufgeladenen Gehirnschwämme und Gehirnzitronen ausquetschen, dann tun wir das nicht alleine, sondern in Gesellschaft. Euer Schicksal ist es nun, diese Gesellschaft zu sein und im Traum dieses Dialogs das Gesagte mitzuerleben. Ist aber das Phänomen des Erlebens eines, von dem wir feststellen dürfen, dass es wirklich stattfindet? Ulrich, was sagst du dazu?

Ulrich Holbein
Also, als ein mit dem Wort LSD in diesen Tagen Überschütteter, gleichzeitig meinem Motto: ‘Weich ab, egal wovon’ Getreuer und als Vegetarier gerne um falsche Hasen herum Kreisender, interessiert mich das falsche Aufwachen, welches du ins Spiel gebracht hast, überaus. Unter diesem falschen Erwachen, um es vielleicht noch zu toppen, würde ich eine Art Fehl-Initiation verstehen: die falsche Tür öffnen, irgendwo entlang laufen, durch die nächste falsche Tür gehen, wieder nicht zum Ziel kommen, und immer so weiter. Aber das Bündel des von dir Gesprochenen war so gross, zumal ja auch die spirituelle Impotenz darin vorkam, die mir ganz besonders attraktiv vorkommt. Also nicht das Phänomen, spirituell impotent zu sein, das würde ich gern hinter mir lassen, aber bei dem Thema würde ich gern noch ein bisschen einhaken.

Micky Remann
Wichtig beim Somnambulen Salon ist die fabulatorische Freiheit, dass unmittelbar auf einander folgende Beiträge keinerlei Bezug zueinander haben müssen. Wie oft träumen wir doch von etwas, das absolut nichts mit dem zu tun hat, was wir kurz davor geträumt haben. Das Schöne am Traum ist ja, dass da niemand auf sequenzielle Logik achtet, auf regelkonforme Anordnung von Subjekt, Prädikat, Objekt, Indikativ, Konjunktiv, usw. Gerade die unverbundene, unbewachte Bezugslosigkeit der somnambulen Dialogbeiträge stellt Verbindungen her, die einen Sinn stiften, den es vorher nicht gab. In diesem Sinne vermeide ich den Bezug zu der Frage, die du gestellt hast, weil ich die inzwischen auch schon vergessen habe.

Ulrich Holbein
Behauptest du denn, dass ich an deine vorherigen Ausführungen nicht angeknüpft bzw. keinen Bezug darauf genommen hätte? Ich habe doch alle deine Begriffe aufgegriffen. Es kam mir so vor, als hätte ich einen Dialogbeitrag geliefert.

Micky Remann
Danke, das wäre aber gar nicht nötig gewesen.

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Aber du sprichst etwas an, das mich an meine Jugend erinnert. Wer erinnert sich nicht an meine Jugend? Wahrscheinlich die meisten. Wieder geht es ums falsche Erwachen. Damals hatte ich als ungefähr Fünfjähriger im Schlaf einen spürbaren Blasendruck …

Ulrich Holbein
Ja, das …

Micky Remann
… denn zu den populärsten somnambulen Vorkommnissen gehört es, im Traum zu hoffen, man könne sich eines unerträglichen Blasendrucks entledigen, ohne aufzuwachen.

Allerdings schaffen es die Wenigsten, ihre Blase innerhalb des Traums auf psychosomatisch glaubhafte Weise zu entleeren, in dem Sinne, dass sie halluzinativ oder illuminativ davon überzeugt sind, den Blasendruck losgeworden zu sein, ohne in Echt gepinkelt zu haben. Das falsche Erwachen kann sich nun darin äussern, das man mit Blasendruck aufwacht, träumt, man gehe zur Toilette, träumt, man pinkele, träumt, man gehe erleichtert zurück ins Bett, weiterschläft, nur um in der nächsten Traumsequenz festzustellen, dass man schon wieder pinkeln muss. Dann geht alles wieder von vorne los, Sisyphus wälzt seine Blase den Berg hoch, schafft es nicht, muss sich die nächste Kloszene zusammen träumen, das karmische Rad des Leidens dreht sich weiter und immer weiter, weil man merkt: ‘Scheisse, ich muss pinkeln!’

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Das ist ein Dilemma von grosser erkenntnistheoretischer Tragweite und hat nichts mit Auskünften auf die Frage zu tun: wo ist hier im Kongresszentrum bitte die Toilette? Wo ist der Mensch? Wo ist der Schrank? Ich bin damals in meiner Jugend nämlich schlafwandelnd in einen Schrank gestiegen …

Ulrich Holbein
Hm hm.

Micky Remann
… 
und fand mich zwischen dunklen, müffelnden Mänteln wieder.

Ulrich Holbein
Da hinten hängen welche zur Auswahl.

Micky Remann
Ich fühle ich mich die ganze Zeit schon leicht traumatisiert von den Vibes …

Ulrich Holbein
Ja?

Micky Remann
… die da aus der Garderobe kommen.

Ulrich Holbein
Entscheidend ist doch die Frage, ob es überhaupt ein Erwachen gibt?

Micky Remann
Landläufig wird darunter das Ankommen in einer oberen Wirklichkeit verstanden, heller und realer als die untere, dunkle Schlafebene, in der man vorüber gehend anwesend war, um sie mit dem Erwachen hinter sich zu lassen. Wichtige Denker der letzten 30 Millionen Jahre haben aber immer wieder die Idee hierarchisch gegliederter Realitätsebenen in Frage gestellt. Das ist alles ein Trugschluss, sagen sie, Erwachen bedeutet lediglich das Wechseln zwischen gleichwertigen, sozusagen ebenerdig gelegenen Parallelzuständen. Nein, bekräftigen sie, kein Realitätskontinuum kann ein Herrschaftsrecht über das andere beanspruchen, und nein, was das Traumbewusstsein erlebt, ist kein Illusionsmüll, nichts Zweitrangiges, sondern sind Begebenheiten einer Bewusstseinsmodalität, die genauso real und konsistent ist, wie die Wachwelt, in der wir so selbstgewiss herumstolzieren, als gäbe es nichts anderes weit und breit.

Ulrich Holbein
Ich nehme diese Ausführungen mal so direkt wie möglich zu Kopfe. Ich habe einmal ein Traumtagebuch begonnen, in das ich alle Träume, die mir morgens noch einfielen, notierte. Das Traumbuch trägt den Titel ‘Ich und eine Fledermaus, fliegen nur bei Vollmond aus’. Nein, ich korrigiere: ‘Ich und eine Fledermaus, fliegen oft bei Vollmond aus’, so muss es heissen. Nun habe ich später gemerkt, dass man die Träume in zwei Gruppen einteilen kann. Also mein Kopf möchte am liebsten lauter edle, metaphysische Erleuchtungsträume bekommen, aber das geschieht sehr selten, viel zu selten, vielleicht alle drei Jahre einmal hat man einen Traum dieser Kategorie. Nach meiner Beobachtung, und ich bin mir fast sicher, dass sich die mit der Beobachtung aller Anwesenden sowie deiner eigenen Selbstbeobachtung deckt, sind die meisten Träume der zweiten Gruppe zuzuordnen, also wo man ein Klo sucht, weil ein banaler Blasendruck es so will. Diese Träume sind dermassen in der Überzahl, dass es irgendwann wirklich lästig und peinlich wird. Diese Einsicht lässt sich auch in meinem Traumtagebuch nachweisen. Denn jedes Mal, wenn ich im Traum ein Klo suche, weiss eigentlich mein spirituelles Grosshirn schon, dass ich da gleich wieder durch die falsche Tür gehen werde. Mein Geist will jetzt nicht aufs Klo, der will den Traum der Güteklasse 1 A. Aber nein, die durch den Blasendruck ausgelöste Imagination schickt mich trotzdem immer wieder dorthin.

So öffne ich in meinem Traumleben konsequent falsche Türen. Nicht jede Nacht, aber sagen wir mal, jede fünfte, bin ich dringend auf Klosuche. Obwohl ich ja eigentlich das Erwachen, das grundsätzliche Erwachen aus der Dumpfheit und der Traumverwobenheit meiner gesamten Existenz anstrebe, lande ich doch immer nur wieder vor dem Pinkelbecken, oder vor irgendwelchen Gängen, wo ich ein Klo vermute, auch in Hauseingängen, dann träume ich sogar, ich würde mich pinkelnd erleichtern, und merke, ich habe es geträumt. Ich könnte, sollte zwar erleichtert sein, bin es aber nicht, denn schon im nächsten Traum, der sofort folgt, ohne zwischendurch aufgewacht zu sein, merke ich, dass immer noch Blasendruck besteht.

Wann soll ich jemals im Himmel oder in irgendeiner ersehnten Transzendenz ankommen, wenn ich doch …

Micky Remann
‘Flasche neben das Bett’ wird aus dem Publikum vorgeschlagen.

Ulrich Holbein
Wie?

Micky Remann
Ich habe geträumt, jemand taucht auf und macht den Vorschlag: Stell dir eine Flasche neben das Bett.

Ulrich Holbein
Hilft uns das aus dem Dilemma?

Micky Remann
Es gibt so viele Flaschen im Bett, da kann auch ruhig mal eine Flasche neben dem Bett stehen.

Interessant scheint mir ein von dir nicht ausgesprochenes Argument zu sein, welches ich trotzdem habe mitschwingen hören, um somit wieder den Bezug zur Bezugslosigkeit aufzuwärmen, nämlich die Frage der suggestopädisch-hypnotischen Induktion. Es bleibt nicht aus, dass wenn man eine ganze Nacht lang vom …

(Menschen bewegen sich durch den Salon)

Ulrich Holbein
Du, die gehen weg, das ist denen zu hoch!

Micky Remann
Nein, nein, die gehen pinkeln! Also die denken, dass sie rausgehen, das wissen wir ja inzwischen. Die Leute selbst bleiben aber auf den Plätzen, zumindest ihre Blase. Das werden die spätestens merken, wenn sie mit ihrem Traumkörper auf dem Klo sind und es kommt nichts raus. Also die anderen: bitte nicht auf die freien Plätze setzen, sonst würden die da aufjaulen.

Ulrich Holbein
Ob die das merken?

Micky Remann
Jeder merkt, wenn er aufjault.

Ulrich Holbein
Wenn er aufjault …

Micky Remann
Aufjault, ja …

Ulrich Holbein
Nein, lass uns vielleicht bei der Blase nicht stehen bleiben. Jeder spürt ja, dass wir eigentlich aus dem Lebenstraum aufwachen wollen. Wahrscheinlich zeigst du mir noch, wie ich das mache, denn du hast mir vorhin den Schwarzen Peter zugeschoben, dass ich mich in einem Traum befinde, in welchem ich eigentlich gar nicht sein will.

Micky Remann
Richtig.

Ulrich Holbein
Ich will raus aus dem Traum.

Micky Remann
Du hast zwei wichtige Aspekte in die Debatte geworfen: ‘Schwarzer Peter’ und ‘Metaphysik’. Darüber hat Aristoteles ein Buch geschrieben.

Ulrich Holbein
Du, wenn du noch einmal Aristoteles sagst, springen drei Weitere auf und gehen weg, fürchte ich.

Micky Remann
Was gibt es da zu befürchten? Mich begeistert die Vielzahl des nicht erschienenen Publikums. Ob da drei wegbleiben, um für Aristoteles und andere vergangene Seelen Platz zu machen, was spielt das für eine Rolle? Und wenn wir von Metaphysik reden, sollten wir vom Orakel nicht schweigen.

Ulrich Holbein
Die Gefahr ist, dass wir mit deinem Orakel, welches du jetzt schon versuchst, anzubringen …

Micky Remann
Während du versuchst, deine Gefahren anzubringen. Dauernd warnst du vor Gefahren, das ist dein Leib- und Magenthema. Und die Gefahren …

(Luc Sala geht mit einer Videokamera auf die Bühne zu)

Ah, jetzt kommt das holländische Fernsehen! Hello Luc! Erstaunlicherweise steht das holländische Fernsehen jetzt dem argentinischen Fernsehen im Weg, und auch die Zuschauer in Buenos Aires sehen live, wie das holländische Fernsehen eine Sendung überträgt, die in Südamerika schon für Strassenunruhen sorgt. Die Leute auf der Südhalbkugel in Argentinien sind natürlich längst eingeschlafen, mitten auf der Hauptverkehrstrasse von Buenos Aires verspüren sie einen unglaublichen Pinkeldrang, weil sie die Vorstellung haben, sie müssten irgendwo auf der Nordhalbkugel im Schlaf dringend auf Toilette.

Da du schon vor der Gefahr warnst, dass ich das Orakel hervorziehe, möchte ich deine Befürchtung bestätigen. Es kommt zum Äussersten, ich riskiere die Einbeziehung eines orakulösen Hilfsmittels, das uns aus unserem Dilemma vielleicht befreit.

Ulrich Holbein
Vielleicht auch nicht.

Micky Remann
Als Regisseur eines luziden Traum lässt sich der Inhalt des Dilemmas wunschgemäss beeinflussen, z.B., indem man einen desinteressiert vor sich hinguckenden Ulrich Holbein zu einem feurigen Tiger macht, der fauchend zum Sprung ansetzt, damit man im Gegenzug seine somnambulen Tai Chi Kenntnisse an ihm erproben kann.

Das geht alles, solange man nicht falsch erwacht und denkt, es wäre eine Sit-Down-Comedy beim LSD Symposium in Basel.

(Micky Remann wendet sich Luc Sala mit der holländischen Videokamera zu)

Luc, you realize that we speak all kinds of languages. Probably no language will truely be understood unless you are in a deep dreaming state, as you know. I don’t know if you speak German, but I know that …

Luc Sala
Ich kann deutsch sprechen.

Micky Remann Ja, you can deutsch speaken, but probably you can’t understand what we say in our deutsch! Because we are here to speak some sort of not understandable German. We make an effort to be not understood in the language that we have learned to speak. It’s an exercise in applied neologism, you know, creating new words out of nothing. Why do we need new words? Because they represent new experiences for which there exist no words yet. We have to invent words to describe the undescribable, which then allows us to experience something totally new, by hearing that word, that neologism. Once we’ve described the undescribable, we have created a language to describe nonexistent realms that no one understands.

Luc Sala
In the middle ages there was once a discussion about to be or not to be. We are the students of not to be!

Micky Remann
Ja, und da kann ich meinen Lieblingsdichter Paul Scheerbart zitieren, der schon im bahnbrechenden Roman Ich liebe dich von 1897 sagt: Die Kunst der Zukunft wird das Verstandenwerdenwollen längst überwunden haben!

Das Handicap der Künstler und Mystiker ist doch dieses leidige Verstandenwerdenwollen. Jeder der, bevor er etwas sagt, sich vornimmt, verstanden werden zu wollen, hat sich schon ins Abseits manövriert, hat sich von den Verständnishorizonten seines Publikums vorab einsperren, verkümmern, hypnotisieren lassen, weil er sich nur das zu sagen traut, wovon er meint, dass es die anderen verstehen würden, wobei längst nicht gesagt ist, dass das der Fall ist, oftmals ja eben nicht, wie wir wissen, während die jenseits solcher Beschränkungen zu formulierenden grossartigen Erleuchtungssätze wegen des Unverständnisvorbehalts unausgesprochen bleiben. Was nun aber nicht heisst, der gezielten Miss- oder Unverständlichkeit Bahn und … Bahn und … weiss jemand ein anderes Wort für …

Matthias Bröckers (ruft aus dem Publikum)
… Tor!

Micky Remann
Danke … Bahn und Tor zu öffnen! Sehr gut! Fussball Weltmeisterschaft, der Eröffnungstreffer! Matthias Bröckers sagt Tor! und öffnet Bahn und Zug, so dass wir dort landen, wo wir immer schon waren, nämlich im somnambulen Sackbahnhof oder auch Kopfbahnhof, von dem Ulrich Holbein mit zunehmender Unzufriedenheit geneigt ist, abzuwandeln oder abzuweichen.

Ulrich Holbein
Weil er aufwachen möchte.

Micky Remann
Aufstehen?

Ulrich Holbein
Aufwachen.

Micky Remann
Aufwachen!

Ulrich Holbein
An dem Punkt waren wir stehen geblieben.

Micky Remann
Das wäre das Gegenteil von in Bewegung bleiben.

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Und dieser ewige Aufwachwunsch ist doch so kindergottesdiensthaft naiv, wie der Wunsch, verstanden werden zu wollen.

Ulrich Holbein
Ach so, eben hat es sich noch so angehört, als stünde es uns bevor, dass wir aus dem Wachsein aufwachen. Das wäre ja mal etwas Neues.

Micky Remann
Der Zustand der Antizipation ist an sich ja kein schlechter.

Ulrich Holbein
Ach!

Micky Remann
Zum Beispiel das Warten aufs Glück. Das ist eine kostbare Zeit, die besonders für diejenigen glücklich ist, die schon während sie aufs Glück warten, glücklich sind. Wenn dann das Glück kommt, ist das so banal wie das fahrplanmässige Eintreffen des Zuges auf Gleis soundso. Warten auf den Zug kannst du nur solange, wie er nicht kommt. In freudiger Antizipation schwelgen kannst du nur unter der Bedingung des Nichteingetroffenseins des Zuges. Ähnlich verhält es sich mit dem Glück und eines der grössten Manki … gibt’s das? Manki als Plural von Manko?

Ulrich Holbein
Ach, weisst du was, gerade habe ich etwas ganz anderes verstanden. Weil du eben mit dem Holländer englisch gesprochen hast verstand ich ‘Manki’ wie Affe, ‘monkey’ und dachte, was kannst du jetzt wohl damit meinen?

Micky Remann
Ja, das stimmt, der englische Singular von Affe, ‘monkey’, ist zugleich der Plural von Manko, ‘Manki’.

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Früher, im Altprotohebräischen waren ‘Affe’ und ‘Manko’ ein und dasselbe und es gab sie im Paradies nur im Singular. Erst als sich später alles pluralisierte, wurden aus vielen Affen viele Manki. Ich weiss nicht, ob schon einmal versucht wurde, aus Manko einen Plural zu bilden. Aber selbst wenn wir damit scheitern, wäre das wurscht, weil die Freiheit, ein sprachliches Nicht-Gelingen öffentlich zu zelebrieren, beweist, dass der Versuch, nicht verstanden werden zu wollen, zum Erfolg geführt hat. Nur so entstehen im Ozean des Niedagewesenen neue Verständnisinseln und Verständniskommunen!

Damals, als die ersten, schwer behaarten Neandertaler an ihren Säbelzahntigerkeulen nagend ums Feuer sassen und Orgien feierten mit Asche, Verbranntem und Gegrilltem, also wenn die gut drauf waren, haben die sich auf die Schenkel geklopft und aus fetttriefenden Mündern begeisterte Töne von sich gegeben, um ihren Gefühlen über die Geschmacksvarianten der gegrillten Säbelzahntigerkeule Ausdruck zu verleihen. Vielleicht waren die noch nicht so artikuliert, wie wir es heute zu sein scheinen. Sie konnten sich trotzdem verständigen, aber eben nur mit Neologismen. Es gab kein Lexikon, aus dem sie sich hätten bedienen können. Jedes Gequäke und Gegrunze ihrer archaischen Stimmbänder war eine aus der Situation geborene Wortneuschöpfung, ein Präzedenzfall ohne Vorgeschichte aber mit Nachwirkungen für die gesamte Menschheit. Dieser Prozess hat nie aufgehört und geht natürlich immer weiter. Was man in 100 oder 1.000 Jahren über uns berichtet, wenn man denn über uns berichtet, wird sich etymologisch von dem unterscheiden, was wir heute mit der Absicht auf Verständigung stammeln, grunzen und quäken, so dass wir am besten jetzt schon anfangen, es einzuüben.

Ulrich Holbein
Also die Überdifferenziertheit deiner Suada, wenn ich in die von dir beschworene Zukunft weiterdenke, könnte auch in Verballhornung enden. Wenn man in 100 oder 1.000 Jahren an dich denken möchte, könnte es dir blühen, dass du versimpelt wirst. Die Botschaften, die du hier ausbreitest, könnten sich plötzlich ganz doof und primitiv anhören.

(Man hört Matthias Bröckers auffallend laut lachen)

Micky Remann
Ja, das kommt …

Ulrich Holbein
Wie beugen wir dem vor, dass die Erinnerung missverstanden wird?

Micky Remann

Also zum einen sichern wir uns ab, indem wir gleich das Orakel konsultieren, hier ist das Orakel der Zukunft, welches Lösungen zu Problemen kennt, die es noch gar nicht gibt.

(hebt die 63 Karten der Auerworld Argumente hoch)

Zum anderen, indem ich dich auffordere, aus dem Wort ‘Suada’ einen Plural zu bilden.

Ulrich Holbein
Suada?

Micky Remann
Suadi?

Ulrich Holbein
Das klingt sofort indisch, finde ich: Suadi!

Micky Remann
Die Suaden stammen ursprünglich aus den Upanisuaden, das waren die Suadis der Sadhus.

Ulrich Holbein
Hm hm – die Suadhus!

Micky Remann
Die Upanischwadis waren die geschwafelten Suaden der ihre illuminative Impotenz überwunden habenden Suadhus …

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
… die mit ihren Orakeln in Erkenntnisbereiche vorgedrungen waren, die zu übertreffen selbst uns schwer fallen wird.

Ulrich Holbein
Könntest du nicht dein Orakel, das dringend zu Wort kommen möchte, noch einmal ungefähr viereinhalb Minuten zurückdrängen zu Gunsten einer Einhakung auf diese spirituelle Impotenz?

Also angenommen, ich bin spirituell impotent, obwohl ich mir extra zur Steigerung meiner Kopfkapazität einen Hut aufgesetzt habe. Wir wissen ja seit gestern, wie ich dem Vortrag von Wolf-Dieter Storl entnommen habe, dass das Hirn, und meines, fürchte ich, meines ist davon besonders betroffen, jederzeit schier platzen möchte vor dem Ansturm der ungeheuren Denkkapazitäten, die da ab und zu in dieser Schädelkapsel aufwallen und anschwellen und die ich so deutlich spüre, dass ich sie mit diesem Hut im Zaum halten möchte, aber auch gleichzeitig die Kapazitätserweiterung durch Hut zu erlangen hoffe. Den habe ich extra für diesen Dialog aufgesetzt, um dir rhetorisch standhalten zu können.

Aber nun sag mir doch …, ich merke, dass wir immer an dieser Stelle stehen … – nein, wir bleiben ja nicht stehen, wir bewegen uns weiter, habe ich gelernt -, aber sag mir doch, bezogen auf die spirituellen Impotenz … Du kannst es ruhig auf dem Knie behalten, das Orakel. Das läuft ja nicht weg.

Micky Remann
Doch!

Ulrich Holbein
Also sag mir doch mal …, gesetzt, ich würde mich spirituell impotent fühlen, was du mir suggestopädisch eben eingetrichtert hast. Wie kann ich bitteschön aus dem Aufwachen aufwachen? Das sag mir doch mal!

Laut den eleusinischen Mysterien, von denen wir hier viel hören durften, verhält es sich doch so: wenn man da eingeweiht wird, sieht man ein Licht, gegen das der jetzige Tag wie dunkle Nacht wirken muss. Dieses Mysterienlicht strahlt doppelt so hell wie das berühmte weisse Licht, welches man bei einer LSD-Einnahme mitten in den Blick, nein, nicht in den Blick, sondern …, also irgendwo hinbekommt.

Sag mir doch mal, kann ich aus meinem scheinbaren Wachzustand aufwachen?

Micky Remann
Eine der verfänglichsten Übungen in der Behandlung der illuminativen Impotenz ist die Erwartung einer Erleuchtung, die sich in Wattzahlen bemisst. Wenn du jetzt wissen willst, wie hell das Licht der tatsächlich alles Licht durchdringenden Erleuchtung ist …

Ulrich Holbein
Das wollte ich verhindern!

Micky Remann
… dann ist das eine Frage, die wir an Kraftwerksingenieure weiterleiten müssen. Ich behaupte, du hast deine Mütze aus ganz anderen Gründen auf.

Ulrich Holbein
Ja?

Micky Remann
Weil du einen Austausch mit deinem Kronenchakra pflegst, und du dich entschieden hast, dieses subtile Energiezentrum gut zu behüten. In der Evolution der Fortpflanzungsgegebenheiten weiss man ja um die Relation zwischen der Grösse des menschlichen Gehirns und dem Schambein der Frau, durch welches sämtliche Schädel erst einmal durchschlüpfen müssen bei der Geburt. Möglicherweise hat die Anatomie dieses Nadelöhrs unseren Schädelumfang auf ein bestimmtes Mass festgezurrt. Materialistische Knochenkundler verzweifeln daran, weil sie denken, nun ist Schluss, mehr als das, was ist, geht nicht. Illuminative-Viagra-zu-sich-Nehmer hingegen sagen: Na und? Das Gehirn, egal in welchem Knochengehäuse, bietet unendlich viele Verschaltungsmöglichkeiten, die das schwache Schimmern unserer derzeitigen 2-Watt-Neuro-Funzel im Kopf weit überstrahlen. Freuen wir uns auf die Entfaltung des Synapsenpotentials, auf funkelnde Neuro-Feuerwerke und Wunderkerzenwerke, die wir bei gleich bleibendem Knochengerüst zünden können, dass es nur so kracht.

Ulrich Holbein
Können wir?

Micky Remann
Ja, und dann nützt dir auch dein Chakra-Hut nichts, weil der jetzt schon zu strahlen anfängt, von innen! Da wir im Traum sind, sehen wir alle, wie die wabernde Aura um Ulrichs Zauberhaupt und -hut sich auszudehnen beginnt, pulsierend, heller als tausend Wonnen und wie der Druck des Lichts von innen die Schädeldecke hebt.

Ulrich Holbein
Die persischen Derwische ziehen sich extra einen Turban über den Kopf, um auf diese Weise die Dinge beieinander zu halten. Aber das Leuchten vermisse ich. Der Leuchteffekt, wo ist er denn wirklich? Dieser Hut zum Beispiel leuchtet nicht. Ich sehe auch keine Aura, keinen Nimbus, keine ausbrechende Korona um dein Haupt schweben. Statt dieses höheren Lichts hast du die banale Wattleistung namhaft gemacht und das erinnert mich an den Ausspruch des Volksmundes: ‘Wo viel Licht, da auch eine hohe Stromrechnung’. Nun sacken wir von der metaphysischen Höhe wieder zurück auf Elektrizitätswerke-Niveau.

Micky Remann
Das ist das Problem, dass du immer denkst …

Ulrich Holbein
Richtig, immer!

Micky Remann
… du müsstest etwas transzendieren, dabei aber schon voraus ahnst, dass du das Transzendieren dann doch lieber bleiben lassen willst.

Ulrich Holbein
Ja, ich will doch!

Micky Remann
Behauptest du. Aber dieser emphatisch vorgetragene Wunsch, zu wollen, was du nicht tust, obwohl du es könntest, kommt mir so vor, wie auf Schlittenfahrt gehen zu wollen, aber augenblicklich zu bremsen, wenn es tatsächlich den Abhang runter geht. Einerseits willst du mit Karacho den Berg runter rodeln, andrerseits aber dem Ausmass der Geschwindigkeit dich tapfer widersetzen wollen. Otto Hahn hat einmal gesagt: ‘Ein Schneeball ist auch nur eine Lawine, die ihr Potenzial unterschätzt hat.’

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Moment, habe ich das richtig zitiert? Ihr lacht, dabei ist das völlig falsch, es muss heissen: ‘Eine Lawine ist ein Schneeball, der seine Fähigkeiten unterschätzt hat!’

Ulrich Holbein
Hm hm.

Micky Remann
Wenn wir uns dieser lawinösen, orakulösen, illuminösen Schlittendynamik anvertrauen, wenn die Transformation des Schneeballs zur Lawine eine psychosomatisch erlebbare Schwingungsbewegung entfaltet, was …

Ulrich Holbein
Also ich würde ja sehr gern einen Schlitten besteigen, der …

Micky Remann
Einen Schinken?

Ulrich Holbein
… einen Schlitten, der aufwärts fährt, in der derselben Geschwindigkeit, in der er eigentlich abwärts fahren würde.

Micky Remann
Das kennt man hier in der Schweiz als Skilift.

Ulrich Holbein
Wirklich?

Micky Remann
Ja!

Ulrich Holbein
Na ja, da bleibt dann …

Micky Remann
Der Skilift verbraucht mindestens so viel Strom, wie das, was unter deinem Glühhirn glüht.

Ulrich Holbein
Denkleistungen verbrauchen aber nur wenig Energie. Wenn ich diesen Armmuskel anspanne, verpuffen da, was weiss ich, vielleicht 30 Kalorien. Hingegen wenn ich an Kant und Hegel denke, kommen viel geringere Werte zustande, also der Verbrauch ist minimal, glaube ich.

Micky Remann
Das kommt, weil Schlafwandler eine optimale Energiebilanz aufweisen. Selbst der geringste Input kann einen Output erregen, der hundert Mal stärker ist, als das, was über den Stromzähler abgerechnet wird.

Ulrich Holbein
Du, die zwei Leute da oben haben eben etwas über uns geflüstert. Könnte man denen ein Mikrofon geben? Mich würde interessieren, was die da sagen, um diese Immanenz, in der wir uns drehen …

Micky Remann
… zu transzendieren?

Ulrich Holbein
… versuchsweise.

Tontechniker
Microphone is disconnected

Micky Remann
Disconnected! Das ist die systemische Lage. Wir sind Zusammengehörige in einer disconnected community.

Ulrich Holbein
Das ist mein Leiden, weisst du.

Micky Remann
Dein Leiden?

Ulrich Holbein
Ich stehe immer noch auf dem Schlitten und er fährt auch abwärts.

Micky Remann
Auf dem Schlitten zu stehen ist nicht ratsam.

Ulrich Holbein
Na gut, ich sitze.

Micky Remann
Auf dem Ständer schlittern …

Ulrich Holbein
Ich schlitter auf dem Ständer?

Micky Remann
Nein, du schlitterst nicht auf dem Ständer, aber dein innerer Skilift treibt dich einerseits zur Aufwärtsbewegung, uplifting den Berg hinan, das ewige empor, empor zum Licht! Dies aber zugleich kombiniert mit einer schlitternden Abwärtsfahrt, welche du bremst, so dass du über der Zerrissenheit dieser gegenläufigen Up- and Down-Bewegungen zerbirst … zerbirst?

Jemand aus dem Publikum
Zerbarst!

Micky Remann
Zerburst?

Ulrich Holbein
Diese Zusammenfügung antagonistischer Widersprüche bekomme ich nicht hin, weil ich charakterlich anders strukturiert bin als du. Offenbar bin ich zu wenig …

Micky Remann
… abgewichen?

Ulrich Holbein
Nun versetze ich mich aus irgendeinem Grund ausnahmsweise mal in dich und versuche zu beschreiben, wie deine Schlittenfahrt aussieht.

Du kommst mir vor …, du kommst mir vor, als würdest du schon bald angekommen sein, wo ich mich erst hinbewegen will. Also immer wenn ich auf Transzendenz zu sprechen komme, zeigst du ein überlegenes Lächeln, als würdest du dich da auskennen, wo ich noch nicht hingekommen bin.

Micky Remann
Tu es! Und achte auf den Konflikt zwischen Vokal und Konsonant.

Ulrich Holbein
Meinst du?

Micky Remann
Es entsteht der Eindruck, dass du den angekündigten viereinhalbminütigen Aufschub vor der Ziehung der Orakelkarte bei Weitem überschreiten wolltest. Was beweist, wie geschickt du Zeit und Raum zu transzendieren verstehst. Mit dem Zeitmass von viereinhalb Minuten hat es ja eine besondere Bewandtnis, die uns zu denken gibt. Wie oft schauen wir beim Frühstück nervös auf die Uhr und denken: nach viereinhalb Minuten müssen die Eier aus dem Topf, bloss nicht verpassen, viereinhalb Minuten! Aber dann kochen die vor sich hin, Jahre später sind wir gereift und gealtert, aus den Eiern ist nichts geworden, ausser hart gekochtem Schlitten. Im Traum passiert das häufig. Wie oft schon habe ich im Traum Eier auf den Herd gesetzt, um festzustellen: nach genau viereinhalb Minuten muss ich auf Toilette!

Ulrich Holbein
Tja, das ist mir null Mal passiert, weil ich als Nicht-Karnivore falsche Hasen bevorzuge.

Micky Remann
Falsche Hasen?

Ulrich Holbein
Falsches Aufwaschen …

Micky Reman
Aufwaschen?

Ulrich Holbein
Aufwachen! Nein, also ‘Wachen’ und ‘Waschen’ hängen jetzt aber bitte mal nicht zusammen, finde ich. Oder?

Micky Remann
Doch, doch, beide Male geht es ums ‘Wischen’.

Ulrich Holbein
Ah ja?

Micky Remann
Yes, because LSD brings you a lot of ‘vision’. We are all here on a ‘Wischen-Quest!’

(Aufjaulen im Publikum)

Ulrich Holbein
Angenommen, das Träumen wäre ein einziges, paranormales Wischi Waschi. Dann wäre das Aufwachen gleichbedeutend mit dem Entkommen aus dem Wischi Waschi.

Micky Remann
Wischi Waschi ist die altdeutsche Bezeichnung für Yin und Yang. Das lässt sich ohne Eingriff in die Metaphysik festhalten.

Ulrich Holbein
Vielleicht mit Tohuwabohu zusammenwerfbar?

Micky Remann
Absolut.

Ulrich Holbein
Hickhack ist aber wieder etwas anderes? Und Heckmeck?

Micky Remann
Ähnlich, aber vergleichbar. Gott kennt viele Wege zum Wischi Waschi. Warum einen geringer achten als den anderen?

Ulrich Holbein
Ping und Pong …

Micky Remann
… die beiden.

Ulrich Holbein
Also Ping stellen wir nicht über Pong?

Micky Remann
Korrekt, sie sind im ebenbürtigen dialektischen Austausch begriffen.

Ulrich Holbein
Viele Mystiker sehnen qualvoll vor sich hin, stehen in irgendeiner Wüste herum, dürsten nach dem richtigen Erwachen und nicht nach falschen Hasen.

Micky Remann
Das ist die Falle! Zwischen richtigem und falschem Erwachen unterscheiden zu wollen ist Teil des falschen Erwachsens.

Ulrich Holbein
Ich greife doch nur deinen Terminus von vorhin auf.

Micky Remann
Macht es das etwa besser? Welches Argument du auch immer aufgreifst, kann doch nur als Aufforderung verstanden werden, von eben diesem abzuweichen!

Ulrich Holbein
Du bist wohl Mahajama-Buddhist, für den das Nichts und das Etwas dieselbe Grösse sind?

Micky Remann
In etwa so gross.

Ulrich Holbein
Du verfilzt alle Begriffe, also du bist …

Micky Remann
… eine begriffliche Verfilzung.

Ulrich Holbein
Hast du jemals Sehnsucht …

Micky Remann
Ja!

Ulrich Holbein
… nach weissem Licht?

Micky Remann
Das weiss ich nicht.

Ulrich Holbein
Hab’ doch mal!

Micky Remann
Hab’ doch mal! Weiche ab! Muss es nicht heissen: habe doch mal?

Ulrich Holbein
Hab’ doch mal …

Micky Remann
Schon wieder haben wir es mit einem ‘d’, zu tun, also dem weichen ‘t’, welches dereinst verschwinden wird. Irgendwann bleibt nur noch ‘Hab och mal’ übrig. Diesen Neologismus sollten wir sofort publizieren.

Ulrich Holbein
Hm.

Micky Remann
Und wenn wir bei ‘Hab och mal’, weitere Konsonanten entfernen, kommen wir zum ‘Haochal’. Das ist ein ganz neuer Begriff.

Ulrich Holbein
Oh!

Micky Remann
‘Haochal’ ist altprotosumerisch und beschreibt den Zustand eines sich selbst transzendierenden …

Ulrich Holbein
… Menetekels!

Micky Remann
Ja, wir sehen die Flammenzeichen am Matterhorn. ‘Haochal’ trägt mit dem markanten ‘ch’ schon den Schweizer Anklang in sich. Im Haochal ist die helvetisch-phonetische Sub-Schwingung enthalten, und es kann nicht mehr lange dauern, bis alle Lexika eingestampft werden, die unter dem Buchstaben ‘H’ nicht das Haochal verzeichnen, weil es sich unter Mystikern herumspricht, dass Haochal etwas ganz Besonderes ist, also das geht es feinstofflich voll ab, da fahren die Mankies mit dem Schlitten ins Tal, Haochal! Und der Begriff wird so oft wiederholt, bis auch in Buenos Aires an jeder Strassenecke gerufen wird: ‘Haochal! Haochal! Haochal!’ Ich denke, dem Gebot des Nichtverstandenwerdenwollens ist mit dem Haochal! absolut Genüge geleistet.

Dieter Hagenbach, findest du das auch?

(Kongressveranstalter Dieter Hagenbach läuft durch den Somnambulen Salon)

Dieter Hagenbach
Haochal!

Micky Remann
Haochal! Vom Veranstalter des Symposiums ‘LSD – Sorgenkind und Wunderdroge’ persönlich bestätigt: In Windeseile ist Haochal! zum Schlüsselbegriff des neuspätzeitlichen Mystik-Revivals geworden. Viele haben darauf gewartet, jetzt kann es niemand mehr rückgängig machen.

Ulrich Holbein
Also, wenn ich jetzt mal, weil du eben das Yin warst, nein umgekehrt: du warst das Yang …

Micky Remann
Ping!

Ulrich Holbein
Dann versuche ich jetzt mal …

Micky Remann
Waschi ?

Ulrich Holbein
Das Gegenstück, die andere Hälfte. Weil diese harten Kehllaute des Hachochal …

Micky Remann
Nein: Haochal!

Ulrich Holbein
Im Schweizerischen und Arabischen bin ich nicht so firm. Diese Kehl- und Rachenlaute, die wir wahrscheinlich nur unvollkommen nachahmen …

Micky Remann
Hör doch mal auf diese phonetische Erotik: ‘Haochal!’ das ist eine Orgie für den Kehllaut!

Ulrich Holbein
Ich höre da nur ein Rotzen, als ob zu versuchst, einen Schleimbatzen herauszuschleudern und …

Micky Remann
… ja, sogar als Abhusthilfe ist es geeignet! Haochal hat ein breites gesundheitliches Wirkungsspektrum, nicht nur …

Ulrich Holbein
Das ist erst die halbe Miete, die halbe Hälfte.

Micky Remann
Alle, die bald unter Vogelgrippe leiden, können mit Haochal schon mal husten üben. Mystische Erleuchtung durch prophylaktisches Abschleimen in einem Wurf, mit einem Wort, Haochal. Super! Wir müssen unbedingt eine Werbekampagne starten!

Ulrich Holbein
Ich bin ja nun so eine Mimose, so ein ungeheures Über-Sensibelchen, dass dieser Laut, wie ich finde, doch ein bisschen zu harrrt und männlich ist. Da ich mich eher als eine Frau mit Bart empfinde brauche ich andere, mehr schmeichelnde Worte, um diese Rachen aufreibenden Kehllaute des arabisch-schweizerischen Idioms zu kompensieren. Ich brauche Laute wie zum Beispiel ‘Jellalalabad’. Das ist wunderschön weich, und ich habe es noch viel zu hart gesprochen. ‘Jellalalabad!’ Sprich du das mal, ob das auch zu dir passt!

Micky Remann
Haochal!

Jemand aus dem Publikum
Das war gemein!

Ulrich Holbein
Oder, zum Beispiel ‘Jellaledin Rumi’, ist auch zauberhaft weich, Orlana Jellaledin Rumi, der kam ebenfalls mal in Jellalalabad vorbei. Versuch doch mal Jellalalabad zu sprechen! Ob das deiner Zunge gelingen mag.

Micky Remann
Diese Worte, die du hier in die Manege führst wie zahme Elefanten, sind im Altpersischen alle schwer mit Bedeutung beladen, wenn nicht gar überladen. Selbst diejenigen, die des Persischen unkundig sind und den Bedeutungsinhalt des Wortes Jellalalabad nicht kennen …

Ulrich Holbein
Du bist ja gut, das hätte ich nicht gedacht!

Micky Remann
… für die klingt ‘Jellalalabad’ sehr nach persischer Süssspeise. Und auch ich bin ein grosser Freund persischer Süssspeisen.

Ulrich Holbein
Kann es sein, dass wir hier in hohler Begrifflichkeit kreisen? Als einer, der sich eben noch als Transzendentalist mit hohem Hut zeigen wollte, habe ich die Befürchtung, dass wir im Traum dieser Tiraden auf der Stelle treten.

Micky Remann
Ja.

Ulrich Holbein
Wenn diese Tiraden den Kokon aus Worten und Begriffen nicht durchbrechen, wie kommen wir dann raus aus dem Hamsterrad?

Micky Remann
Indem wir deine Befürchtung des ewigen Drinbleibens noch verstärken. Du bist der Guru deiner Befürchtungen und eine erleuchtete Befürchtung wirkt mindestens so kathartisch wie eine nicht eingetretene Gefahr, vor der aber gewarnt werden muss!

Ulrich Holbein
Wovor muss gewarnt werden?

Micky Remann
Vor der Gefahr. Und vor der Befürchtung.

Ulrich Holbein
Meine grösste Befürchtung ist, dass ich erleuchtungsungeeignet bin und meine noch grössere Befürchtung ist, dass ich in einem Jahr sogar noch weniger erleuchtet sein werde, als jetzt schon nicht.

Micky Remann
Wir sind hier versammelt, um diese Befürchtungen zu verstärken.

Ulrich Holbein
Es wäre mir lieber, die Versammelten könnten die Kraft Ihrer Versammlung einsetzen, um die Erleuchtung zu befördern, besonders meine.

Micky Remann
Keine Befürchtung ist so gross, als dass sie durch die Warnung vor einer Gefahr nicht noch vergrössert werden könnte! Möglicherweise ist die Erlösung der Gefahr nur durch gesteigerte Befürchtungen zu erlangen.

Ulrich Holbein
Erlösung würde nichts bringen? Also ich möchte lieber erleuchtet, als erlöst werden.

Micky Remann
In deinem Falle hält aber gerade die Befürchtung genau das, was du dir irrtümlich von der Erleuchtung versprichst. Es ist wahr, wir schippern alle auf dem falschen Dampfer dem sicheren Hafen des falschen Erwachens entgegen.

Ulrich Holbein
Wie, jetzt sind auch meine Befürchtungen falsch? Nein, Moment …

Micky Remann
Die Gefahr liegt in der Befürchtung, sie könnte nicht mehr gesteigert werden.

Ulrich Holbein
Könnte das als oversophisticated empfunden werden?

Micky Remann
Matthias Bröckers verzieht sich schon genervt in die Garderobe. Oder er bestellt sich in der Space-Bar ein Aphrodisiakum.

Ulrich Holbein
Wenn das so ist …

Micky Remann
Wir haben vor der Sendung etwas vorbereitet …

Ulrich Holbein
Wir nicht und ich schon gar nicht!

Micky Remann
Stimmt. Wir sind bis jetzt ohne etwas Vorbereitetes ausgekommen, da wäre es ein Stilbruch, auf Fertigware zurückzugreifen. Würde uns eh kleiner glauben.

Aber das Orakel müssen wir noch befragen, das haben wir vor mehrfach vergangenen viereinhalb Minuten versprochen, besonders die Leute in Buenos Aires warten darauf.

Ulrich Holbein
Tu dies.

Micky Remann
Hier auf der Nordhalbkugel ist es gerade ziemlich düsterer Winter, mehr Licht und Sonne gibt es auf Südhalbkugel der Erde. In Australien und Argentinien sind sie der Erleuchtung viel näher, da ist jetzt praller Sommer, da liegen die Leute in Bikinis am Strand und orakulieren.

Ulrich Holbein
Orakulieren.

Micky Remann
Und eine Orakelkarte dieser 63 Auerworld Argumente wird jetzt präzise zusammenfassen, was bisher gesagt wurde, bzw. was zum Thema noch gesagt werden muss.

Ulrich Holbein
Das glaube ich dir aufs Wort.

Micky Remann
In dieser einen zu ziehenden Orakelkarte, das kann ich jetzt schon versprechen, steckt so viel Weisheit …

Ulrich Holbein
Das kann ich jetzt schon bestreiten!

Micky Remann
… dass selbst die Bestreitbarkeit der Weisheit vom orakulösen Gehalt der Karte noch übertrumpft wird. Deswegen bitte ich jetzt, dass eine unbelastete Person aus dem Auditorium vortritt und eine Karte aus dem Packen zieht …

Aus den Publikum
Ja! Ja!

Micky Remann
Ihr sagt ‚Ja’, aber manche denken ‚Nein’ und trauen sich nicht vor. Wo bleibt die Courage? Psychedelische Drogen zu nehmen, erfordert mindestens den Mut, sie zu nehmen; zu erleben, was dann passiert, manchmal auch. Aber Nehmen ist jetzt seliger als Geben. Wer greift mutig zur Orakelkarte?

Und da kommt schon, wie durch ein Wunder, die Kandidatin, die Orakel-Fee. Herzlich Willkommen! Wir bitten um tosenden Applaus, und wink bitte gleich in die Kamera nach Argentinien, in die Sonne der Südhalbkugel.

Kandidatin, die aus dem Publikum zur Bühne gekommen ist
Soll ich mich konzentrieren jetzt?

Micky Remann
Ganz stark konzentrieren bitte, die Karte, die du ziehst, ist die Quintessenz der ganzen Veranstaltung.

Kandidatin
Soll ich an etwas denken oder gar nichts?

Micky Remann
Beides!

(Die Kandidatin zieht eine Orakelkarte)

Micky Remann
Vielen Dank! Das Orakel hat entschieden, sich uns gegenüber mit dieser Karte hier zu offenbaren. Es hätte auch eine andere aus dem 63 Karten umfassenden Stapel sein können. Aber nur diese ist für die somnambule Situation hier und jetzt gültig. Danke, Orakel-Fee, danke meine Damen und Herren, dass Sie bis jetzt ausgeharrt haben, um zu vernehmen, was das Orakel verkündet. Der Spruch auf dieser Karte besagt, das steht hier, das kann jeder überprüfen:

Der lang ausschlafende Wurm entkommt dem früh aufgestandenen Vogel

Ulrich Holbein
Das heisst, ich werde wieder nicht erlöst. Na ja, ist jetzt auch egal.

Micky Remann
Mit diesem Orakel kann nun jeder in sich zu gehen und entscheiden: bin ich Wurm oder bin ich Vogel? Bin ich der Frühaufsteher, der gleich bei Tagesanbruch von vogelgrippeverseuchten Amseln, Drosseln, Finken und Staren gefressen wird, oder bin ich der verpennte, teil-erleuchtete Wurm, dessen Verweilen im Somnambulen Salon die beste Lebensversicherung gegen hungrige Realitätsvögel ist. Das Orakel bestätigt, was wir immer behauptet haben: Schlafen lohnt sich, Erwachen ist falsch!

Ulrich Holbein
Der Verarschte ist aber der Vogel, der ergebnislos in der Gegend pickt, und nicht begreift, warum kein Wurm sich regt. Eigentlich sind alle verarscht, der Vogel, wie auch der Wurm, einschliesslich Mensch, jede Wette! Der Wurm weiss ja nicht, dass er auch ein Vogel sein könnte, jetzt mal transpersonal gedacht. Und ich darf nicht aufwachen, das habe ich deinen Worten subkutan entnommen. Ich darf auch nicht aus meinem Wachsein aufwachen.

Es kommt mir so vor, als hättest du mich zum Wurmdasein verurteilt.

Micky Remann
Wunderbar, endlich kann der erleuchtete Wurm durchschlafen, weil er den Wunsch aufzuwachen aufgegeben hat …

Ulrich Holbein
Das finde ich tragisch, du findest es lustig …

Micky Reman
… er findet es tragisch, ist aber erleuchtet!

Ulrich Holbein
Nö, nö.

Micky Remann
Wie viele Würmer verpassen ihre Erleuchtung, weil sie vorzeitig ihr Bett verlassen? Das grösste Unheil der Menschheit kommt von zu früh aufgestandenen Würmern!

(Applaus, Gejohle)

Ulrich Holbein
Ich stehe doch jede Nacht auf, im Schlaf, suche verzweifelt das Klo, finde es mal, finde es mal nicht. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich dadurch aufgewacht bin.

Micky Remann
Sag ich ja!

Ulrich Holbein
Oder, dass ich weiter geschlafen hätte.

Micky Remann
Sag ich ja auch! Weil die Klo- und Pinkelträume, die deine nicht stattfindenden Erleuchtungsträume majorisieren, dich immer wieder auf die alles entscheidende Yoga-Übung hinweisen wollen: Lerne den Schliessmuskel im Traum zu öffnen, ohne ins Bett zu machen!

Ulrich Holbein
Aber soll ich auf ewig in dieser Tretmühle bleiben, so buddhistisch-mahajanistisch, also das gefällt mir nicht. Na gut, es macht auch ein bisschen Spass.

Micky Remann
Den Begriff der Tretmühle für einen Wurm zu verwenden, der gar keine Füsse zum Treten hat, finde ich bemüht.

Ulrich Holbein
Ja, ja, das finde ich ja gerade so Scheisse.

Micky Remann
Aber der luzide Wurm hat stets die Möglichkeit, sich die Füsse zu erträumen, die er gar nicht hat. Je virtueller der Wurm träumt, desto näher ist er dem Tausendfüssler.

Ulrich Holbein
Findest du, dass der Tausendfüssler mehr Beine hat als ein Wurm? Das ist auch nur Schein.

Micky Remann
Im Traum zählt kein Wurm nach, wie viele Füsse er hat. Er reicht ihm, dass er welche haben könnte, egal, wofür er die dann verwendet.

Ulrich Holbein
Man weiss seit Tschuang Zhi, 600 vor Christus, dass, sobald der Tausendfüssler daran denkt, seine Beine nachzuzählen, was er aber mangels Gehirn gar nicht kann, denn er hat ja als Nervenzentrum nur den Oberschlundganglion zur Verfügung, wenn er also mit diesem Oberschlundganglion anfangen würde, seine Beine zählen zu wollen, käme er auf NULL, weil er keinen Begriff von Zahl und Vielzahl hat. Er kann nicht einmal bis EINS zählen, als Tausendfüssler.

Micky Remann
Ich bin gerührt, wie jetzt in diesem Moment, da fast jeglicher Zusammenhang in unserem Dialog verloren zu sein scheint, hier ein frappierender Bezug auftaucht. Aufmerksamen Schlafwandlern ist die Erinnerung an das Thema Metaphysik geblieben.

Ulrich Holbein
Da denke ich ständig dran, aber …

Micky Remann
Wenn wir nun das Wort Metaphysik in seine Teilbegriffe zerlegen, kommen wir auf ein Mittelstück namens ‘phys’. Von diesem ‘phys’ ist es nur ein ganz kurzer Weg zum gleichlautenden Mittelteil ‘füss’ beim Tausendfüssler. Wir erkennen einen inhaltlichen Bezug zwischen MetaPHYSik und TausendFÜssler!

Ulrich Holbein
Wahrlich, wahrlich, red du nur – ja na und, was jetzt?

Micky Remann
Jetzt kannst du meinetwegen aufwachen, um dich vom erstbesten Vogel fressen zu lassen!

Ulrich Holbein
Nee, nee.

Jemand aus dem Publikum
Absurd …

Ulrich Holbein
Der vom Vogel halbverdaute Wurm … und so weiter.

Micky Remann
Also …

Ulrich Holbein
Mir kam es eben kurz so vor, als hätten wir uns sekundenweise verstanden.

Micky Remann
Gut, dass wir von dieser Illusion erlöst sind!

Ulrich Holbein
Ist ja klar …

Micky Remann
Hoachal!

Ulrich Holbein
Jellalalabad!

Ende

Januar 2013

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