juli 2021 – goodnews editorial

Critical Mass

Wie viele Schweizer braucht es, um eine Glühbirne auszuwechseln? (Bei uns wurde bekanntlich kürzlich das CO2-Gesetz abgeschossen, das wenigstens im Ansatz an unsere Bringschuld an die Umwelt hätte beitragen sollen.) Wie viele aktive Bürger müssen es sein, damit sich eine Gesellschaft ändert? Reichen sechs Prozent wirklich? Wie viele müssen aufs Fahrrad steigen, auf die Strasse gehen, demonstrieren, marschieren, Spruchbänder hochhalten und nach internationaler Solidarität rufen, bis sie ihre Forderungen konkretisieren können? Wie viele müssen sich einig sein? Und können sie sich überhaupt einigen? (Treffen sich zwei Konservative, freuen sie sich, treffen sich zwei Linke oder Grüne, ist der eine dem anderen nicht links oder grün genug.) Und falls sie sich doch einigen sollten, können sie sich durchsetzen? Das Klima sorgt bei allen für rote Köpfe. Küstenstädte, Bergdörfer und Trockengebiete wappnen sich, Klimaflüchtlinge kämpfen um ihr Überleben. Hausbesitzer sind in Sorge, Unwetter jagt Unwetter, Hitzewelle, Hitzewelle, Feuersbrunst, Feuersbrunst, Überschwemmung, Überschwemmung, Felssturz, Felssturz, Vulkanausbruch, Vulkanausbruch, Erdbeben, Erdbeben und noch immer geht kein Ruck durch unsere Gesellschaft. Ich fahr mit dem Zug in die Ferien (fliegen ist jetzt noch ineffektiver) und versuche auch sonst, leise zu treten, was Natur um Umwelt anbelangt, aber es ist nicht genug, auch wenn Hunderttausende von uns sich so verhalten. Veränderung drängt nicht nur von unten nach oben, sie muss auch aus der Industrie, der Regierung, den Betrieben, Werkstätten und Höfen kommen. Ist das Klima vielleicht nicht sexy genug? Wie kritisch ist die Masse? Wo und wie lässt sie sich umstimmen? Wo sind die Werber und Public Relationisten, die dem Kampf für das Klima und gegen das Artensterben ein gewinnendes Image verpassen? Eines, das in uns ein drängendes Verlangen entstehen lässt, viel Geld in die Umwelt zu investieren und an diesem lohnenden Vorhaben gut zu verdienen. Ich sehe das Plakat schon vor mir: Mein Wetter, mein Klima, meine Welt!

Erhitzt, Ihre
Susanne G. Seiler


was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie gross wie klein das Leben als Mensch
wie gross wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie gross wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Friederike Mayröcker

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