september 2021 – goodnews editorial

Weisse Vorrechte

Im ganzen Abteil meines verspäteten ICE wurden ab Badischer Bahnhof lediglich zwei Ausländer kontrolliert. Sie sassen auf der anderen Seite des Gangs, gleich neben mir, zwei in Deutschland lebende Libanesen, die nach Luzern wollten. Die beiden vierschrötigen Schweizer Grenzpolizisten gaben sich zufrieden, weil sie etwas Deutsch sprachen, doch die beiden Herren machten sich Sorgen wegen ihres Anschlusses. Ich konnte sie nicht überzeugen, dass sie den nächstbesten Zug nehmen durften. «Die Schweiz ist sehr streng», meinte der Mann, der mir am nächsten sass, «wir kaufen besser eine neue Fahrkarte.» Zum Glück kam in Basel SBB die Schweizer Kontrolleurin an Bord und konnte ihnen weiterhelfen. Vor den Kopf gestossen, wie sicher ich mir meiner Rechte war, während die beiden Fremden lieber gleich kuschten, stieg ich aus. Mir wurde wieder einmal peinlich bewusst, dass ich keine Angst haben muss vor den Behörden, vor der Polizei oder irgendwen sonst, dass ich als Einheimische ganz selbstverständlich dazu gehöre und mir jederzeit Gehör verschaffen kann. Ich muss nicht leisetreten, innerlich auf den Zehenspitzen gehen, mich zusammennehmen, sobald ich den öffentlichen Raum betrete. Mir sind die Skrupel meiner Freunde fremd, die hier als Secondos leben. Ich stehe nicht in der Schuld der Schweiz, brauche nicht mehr leisten als andere, um meine Dankbarkeit zu beweisen. Und dabei bloss nicht auffallen. Lieber unterschreiben die meisten Zugewanderten keine Petitionen oder andere Quartiervorstösse. An den Schulfesten meiner Enkel, die im Multikulti-Kreis 4 in Zürich stattfinden (Ausländeranteil: 50%), essen wir köstliche Gerichte, die Eltern aus dreissig Nationen für uns gekocht haben. Getrennt und doch gemeinsam, essen wir, nach Ethnien versammelt, freund- und nachbarschaftlich an langen Tischen. Wir Schweizerinnen wissen, dass wir jederzeit bei unseren Nachbarn anklopfen können, sollten wir etwas brauchen, eine Tasse Mehl, ein Ei, das Handy. Für «die anderen» ist es nicht so einfach. Ich freue mich auf das nächste Fest, das bald stattfinden wird, nach langer Pause, und rede auch dort mit Fremden und mit meinen Nachbarn, gleich woher sie kommen. Sie haben es schwerer als wir.

Mit städtischen Grüssen ins Land,
Susanne G. Seiler


Leichte Süsse

Leichte Süsse wippt sich in die Fäden.
Die Sonne rollt die Knie ein, wie wenn
sie sich ins Bett verziehen möchte.
Derweil wirbeln Blätter wie auf Rädern
durch Strassen und zeigen, wo’s lang,
und was bald zu Ende geht.

M.B. Hermann

Scroll to top