november 2022 – goodnews editorial

wokeness

Viele von Ihnen sind zu jung, um zu wissen, was in den aufgeheizten, revolutionären Sechzigern und Siebzigern für raue Töne herrschten. Man sah sich als Kämpfer, gewisse leider auch als Terroristin und das im Namen einer Revolution, die so nie stattfand. Unsere Revolution war kultureller Natur, doch das sah man erst Jahre später. In der Psychologie waren Encounter-Gruppen populär, wo die Leute sich anschrien und beschimpften. Hauptsache Konfrontation und raus mit den Gefühlen! Echt sein, ohne aufgesetzte soziale Maske, die damals einiges rigider war als heute, das muss man schon sagen.
Vergleiche ich diesen Umgang mit dem, was ich kürzlich beim Arzt hörte, muss ich laut lachen. Sagte die eine Praxisgehilfin zur anderen: «Könntest du dir vielleicht vorstellen, morgen eine Stunde früher zur Arbeit kommen?» Empfindlichkeiten konnten wir uns nicht leisten.
Ich muss anderen auch Unangenehmes zumuten und direkt kommunizieren können, ohne sie anzugreifen oder einen fordernden Ton anzuschlagen, wie es damals in Büros und Werkstätten gang und gäbe war. Und diese müssen bereit sein, sich etwas sagen zu sagen, ohne gleich im nächsten Schmollwinkel zu verschwinden. Es ist gut, dass wir seit den wilden Hippie- & Revoluzzerjahren in uns gegangen sind und mehr Rücksicht aufeinander und auch auf andere Religionen, Rassen, Ethnien und Kulturen nehmen. Diese gehören längst zu uns, auch im letzten Krachen, wie ich immer wieder interessiert feststelle. Ich mag die multikulturelle Gesellschaft, sie bereichert unser Leben, und wenn wir dauernd zu den unterschiedlichsten Zwecken ins Ausland fahren, sehe ich keinen Grund, warum das Ausland nicht auch zu uns kommen sollte.
Nun gibt es aber Leute, die sich über andere erhaben fühlen. Denn siehe da, sie wissen was richtig ist, was man glauben soll, was sich gehört und was guter Geschmack bedeutet. Witze über andere Nationalitäten oder Religionen? Pfui! In irgendeiner Form blankziehen? O mein Gott! Alles muss verschleiert werden, ausser muslimische Frauen. Aus Bewunderung oder Ignoranz Werte und Ausdrucksweisen anderer Kulturen übernehmen? Sicher nicht! Wir halten hier die Werte rein. Keine Vermischung bitte oder du wirst gecancelt! Wenn ich meinem sardischen Nachbarn mit einem Augenzwinkern einen Italienwitz erzähle, ist das kein Schäkern mehr, sondern ich beleidige seine Werte, sein Land, seine Integrität. Dasselbe gilt für die leidige Dreadlocks-Debatte. Vielleicht wissen wenigstens inzwischen die meisten, dass es keine «Rastazöpfe» sind. Und was ist mit Winnetou? Selbstverständlich bin ich für eine bessere Repräsentation von Minderheiten im Film und anderswo. Aber gleich das Kind mit dem Badewasser ausschütten? Kinder sollen nach wie vor Tom Sawyer lesen dürfen (die frühen Globi-Bücher weniger). Neger war früher ein gängiges Wort. Wegen Apartheid und Rassismus empfinden schwarze Menschen diese Bezeichnung als despektierlich. Andere Menschen beschimpfen ist immer out. Das muss man Kindern erklären.
Gesunder Menschenverstand ist angesagt, will man wissen, was man seinen Nachbarn und Mitbürgerinnen zumuten kann. Sich an selbsternannte Moralapostel halten oder seine Meinung nur in den sozialen Medien bilden, wo irgendwelche Würstchen und Hasser sich zu trauriger Berühmtheit trollen, ist keine Option.
Übrigens suche ich 2.2 Millionen Franken für das schmale Haus am Spalenberg in Basel, im dem Dieter Hagenbach, der die Gaia Media Stiftung ins Leben rief, viele Jahre lebte. Wir würden daraus gerne eine LSD-Museum machen. Hat jemand Geld und Lust?

  Ihre
   Susanne G. Seiler

P.S. Sie finden uns jeden Donnerstagnachmittag von 14 – 18 Uhr in der Gaia Lounge, Hochstrasse 70 in Basel (Nähe Hauptbahnhof Basel SBB, Haltestelle Peter Merian). Herzlich willkommen!


allzeit glücklich

Manchmal ein bisschen träumen
Und immer ein bisschen hoffen
So blieb zu seligen Räumen
Mir allzeit ein Türchen offen

   Ernst Goll

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