märz 2023 – goodnews editorial

oops, i did it again

Vor ein paar Jahren versuchte ich, eine Mikrodosis LSD zu nehmen, indem ich einen winzigen Streifen von einem Blotter abschnitt. Damals hatte ich noch mein Bed & Breakfast und nahm die Minidosis nach der Arbeit, am späten Vormittag. Danach erledigte ich einige Büroarbeiten. Ich stellte mir vor, dass ich unter dem homöopathischen Einfluss von LSD unliebsame und zeitaufwändige Aufgaben speditiver erledigen würde. Etwa dreissig Minuten später veränderte sich meine Wahrnehmung. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mein Gehirn fühlte sich an, als breite es sich aus. Bunte Muster schlichen sich in mein Blickfeld. Ich hatte zu viel erwischt und beschloss, mich hinzulegen.
Obwohl ich höchsten dreissig Mikrogramm eingenommen hatte, gemessen am Rest, wurde ich für die nächsten zwei Stunden mit wechselnden farbenfrohen und lebendigen Landschaften belohnt, die ich nur als erhaben und spirituell bezeichnen kann. Es war eine warme und freundliche Erfahrung, und ich stand neunzig Minuten später erholt wieder auf, wie nach einem guten Film.
Letzte Woche versuchte ich, das Experiment zu wiederholen, dieses Mal mit einer, wie ich hoffte, deutlich geringeren Menge. Das LSD fuhr dieses Mal innerhalb von zwanzig Minuten ein. Es war ein anderes, noch stärkeres Filzchen. Was nun? Es war nicht so, dass ich nicht funktionieren konnte, aber wollte ich das? Planmässig stieg ich dennoch in den Intercity nach Basel. Der Zug hatte Zürich noch nicht lange verlassen, als ein abgerissener Mann aufstand und um Geld zu betteln begann. Der noch junge Mann war in einem erbärmlichen Zustand, und es tat weh, ihn so krank und ausgezehrt zu sehen. An einem Mundwinkel klebte Spucke, und er schwankte, als er einen weiteren Fahrgast verliess und auf mich zu steuerte. Ich hielt zur Abwehr meine offene rechte Hand hoch. Er ging an mir vorbei, kam aber später zurück. Ich hatte Mitleid mit ihm. In diesem Moment waren wir beide Konsumenten unterschiedlicher illegaler Substanzen, mit unterschiedlichem Hintergrund und aus unterschiedlichen Gründen.
Unser Austausch bleibt zwischen ihm und mir. Ich bin mehr denn je davon überzeugt, dass wir Menschen wie ihn annehmen sollten, hilflos und ohne jegliche Perspektive, verloren, wie sie sind. Ich spürte seine Unruhe, seine Verzweiflung. Seine Beine waren stellenweise ausgebleicht, als hätte er Vitiligo, und mit Wunden übersät. Er gehörte zum Strandgut unserer Gesellschaft, diese Menschen, die niemand will, nicht einmal in einem Reha-Programm. Mir ist klar, dass sie nicht jeden aufnehmen können. Er war aber nicht bösartig oder respektlos. Und auch nicht dumm. Nur nicht sauber. Ich gab ihm ein bisschen Geld. Mir ist egal, wofür er es ausgibt. Ich möchte, dass er weiss, dass ich ihn sehe. Dass ich ihn nicht verachte. Und dass ich mir ein besseres Leben für ihn wünsche.
Die vermeintliche Mikrodosis hielt bis zum frühen Abend an, als ich mit dem Zug nach Hause fuhr. Es geschah weiter nichts Ungewöhnliches, nur die Tage werden länger.
Herzlich Ihre
 Susanne G. Seiler
 
P.S. Sie finden uns jeden Donnerstagnachmittag von 14 – 18 Uhr in der Gaia Lounge, Hochstrasse 70 in Basel (Nähe Hauptbahnhof Basel SBB, Haltestelle Peter Merian). Herzlich willkommen!


mensch, werde wesentlich

Mensch, werde wesentlich: denn wann die Welt vergeht,
So fällt der Zufall weg, das Wesen, das besteht.

Angelius Selesiuis 

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