oktober 2021 – goodnews editorial

Sprachgrenzen überschreiten

Wir sind ein einig Volk von Sprachpolizisten! Von Anfang an wachen wir peinlich darüber, dass gerade die Schwächsten in unserer Gesellschat nicht über ein gewisses sprachliches Level hinauskommen. Es braucht mehr Unterricht für den scheuen Surprise-Verkäufer vor der Migros, der keine umgangssprachliche Übung mit Eingeborenen wie mich hat. Er wollte mich warnen, mein Veloständer sei nicht hochgeklappt. Sehr aufmerksam. Meine Freundin Brigitte, die vor über vierzig Jahre in die Schweiz eingewandert ist und längst den roten Pass besitzt, klagt, sie werde bis heute immer wieder wegen ihrer Sprache angemacht. Ihr Schweizerdeutsch sei nicht Schweizerdeutsch, ihr Deutsch nicht Deutsch genug. Wo sie denn sie herkäme, in Deutschland? Eine ziemliche Frechheit, natürlich ‘nicht bös gemeint’. Auch ohne Amt oder Gesetz, das über die schweizerdeutschen Dialekte wacht, müssen Deutsche und Österreicher ein peinliches Protokoll befolgen, wenn sie bei uns heimisch werden wollen. Schweizerdeutsch ist tabu! Bitte nur verstehen, nicht sprechen, weil, ihr könnt es ja sowieso nicht, dass kann kaum einer, die nicht hier aufgewachsen ist. Es gibt eine der Höflichkeit geschuldete Karenzzeit für deutschsprachige Ausländer, die nicht gleich bei uns an der Grenze leben. Dass dabei die schweizerischen Arbeitskolleginnen unter sich immer wieder in ihren Dialekt zurückfallen, statt sich der Schriftsprache zu bedienen, gehört dazu. Wir wollen unseren zugewanderten deutschsprachigen Nachbarn unser Hochdeutsch aber nicht über das Notwendige hinaus zumuten. Was meinen die eigentlich, fragte mich Brigitte echauffiert. Ihr Deutsch sei derart gut? Unseren neuen Mitbürgern aus dem Norden und Osten ist längst ein sprachliches Licht aufgegangen. Sie verstehen uns gut. Warum also die Schriftsprache noch länger strapazieren? Während sie uns mit ihrer eigenen Sprache erfreuen, sprechen wir die unsere und eröffnen ihnen damit eine bessere Integration. Und als Bonus stehen wir selbst etwas bescheidener da. Oder wir sprechen alle englisch, noch so ein Kapitel. Sprachen lernen lohnt sich. Es sei denn, man lebt in der Schweiz, wo alle erst einmal denken, sie könnten sowieso alles besser als du. Bitzeli Päch, das.

Nicht minder herzlich, Ihre
Susanne G. Seiler


Sprachlicher Rückstand

Immer noch
sagen wir dem
was am Morgen geschieht
die Sonne geht auf
obwohl seit Kopernikus klar ist
die Sonne bleibt stehn
und
die Welt geht unter.

Franz Hohler

september 2021 – goodnews editorial

Weisse Vorrechte

Im ganzen Abteil meines verspäteten ICE wurden ab Badischer Bahnhof lediglich zwei Ausländer kontrolliert. Sie sassen auf der anderen Seite des Gangs, gleich neben mir, zwei in Deutschland lebende Libanesen, die nach Luzern wollten. Die beiden vierschrötigen Schweizer Grenzpolizisten gaben sich zufrieden, weil sie etwas Deutsch sprachen, doch die beiden Herren machten sich Sorgen wegen ihres Anschlusses. Ich konnte sie nicht überzeugen, dass sie den nächstbesten Zug nehmen durften. «Die Schweiz ist sehr streng», meinte der Mann, der mir am nächsten sass, «wir kaufen besser eine neue Fahrkarte.» Zum Glück kam in Basel SBB die Schweizer Kontrolleurin an Bord und konnte ihnen weiterhelfen. Vor den Kopf gestossen, wie sicher ich mir meiner Rechte war, während die beiden Fremden lieber gleich kuschten, stieg ich aus. Mir wurde wieder einmal peinlich bewusst, dass ich keine Angst haben muss vor den Behörden, vor der Polizei oder irgendwen sonst, dass ich als Einheimische ganz selbstverständlich dazu gehöre und mir jederzeit Gehör verschaffen kann. Ich muss nicht leisetreten, innerlich auf den Zehenspitzen gehen, mich zusammennehmen, sobald ich den öffentlichen Raum betrete. Mir sind die Skrupel meiner Freunde fremd, die hier als Secondos leben. Ich stehe nicht in der Schuld der Schweiz, brauche nicht mehr leisten als andere, um meine Dankbarkeit zu beweisen. Und dabei bloss nicht auffallen. Lieber unterschreiben die meisten Zugewanderten keine Petitionen oder andere Quartiervorstösse. An den Schulfesten meiner Enkel, die im Multikulti-Kreis 4 in Zürich stattfinden (Ausländeranteil: 50%), essen wir köstliche Gerichte, die Eltern aus dreissig Nationen für uns gekocht haben. Getrennt und doch gemeinsam, essen wir, nach Ethnien versammelt, freund- und nachbarschaftlich an langen Tischen. Wir Schweizerinnen wissen, dass wir jederzeit bei unseren Nachbarn anklopfen können, sollten wir etwas brauchen, eine Tasse Mehl, ein Ei, das Handy. Für «die anderen» ist es nicht so einfach. Ich freue mich auf das nächste Fest, das bald stattfinden wird, nach langer Pause, und rede auch dort mit Fremden und mit meinen Nachbarn, gleich woher sie kommen. Sie haben es schwerer als wir.

Mit städtischen Grüssen ins Land,
Susanne G. Seiler


Leichte Süsse

Leichte Süsse wippt sich in die Fäden.
Die Sonne rollt die Knie ein, wie wenn
sie sich ins Bett verziehen möchte.
Derweil wirbeln Blätter wie auf Rädern
durch Strassen und zeigen, wo’s lang,
und was bald zu Ende geht.

M.B. Hermann

august 2021 – goodnews editorial

Motivation – woher stehlen, wenn nicht nehmen

Mein Freund Max, in seiner Freizeit Philosoph, meint, wir müssten, um uns zu motivieren, nur die innere Sau rauslassen. Motivation, sagt Wikipedia, ist das, was erklärt, warum Menschen oder Tiere ein bestimmtes Verhalten zu einem bestimmten Zeitpunkt einleiten, fortsetzen oder beenden. Triebe wie Hunger, Durst und Fortpflanzung definieren unsere Bedürfnishierachie, was bedeutet, dass wir gewisse Gefühle prioritär behandeln. Motivation ist eine Mischung aus uns innewohnendem und triebhaftem Verhalten, ein Impuls instinktiver, genetischer und geistiger Natur. Es gibt zwei Arten von Motivation, die Wissenschaft nennt sie intrinsisch und extrinsisch. Extrinsisch ist alles, was von aussen kommt, und ich nur deshalb tue, weil ich etwas dafür bekomme, in unserem Fall Geld, Liebe oder Status. Motivation ist hier Begierde und führt in die Versklavung. Ich mache mich abhängig von der erwarteten Belohnung und verlerne oder vergesse das zu tun, was mir Freude macht. Selbstverständlich kann man leidenschaftlich an einem sinnvollen Projekt arbeiten und dafür einen Lohn beziehen; wir müssen alle von etwas leben. Das wäre ein Motiv. Man kann aber auch ein bestimmtes Pensum an einfacher Sklaverei in Kauf nehmen und dafür ausserhalb der Arbeit unbelastet eigene Interessen verfolgen. Das Herz, dieser einsame Jäger, sucht die wahre oder intrinsische Motivation, die Schaffenslust, den kreativen Impuls, der uns von innen her dazu drängt, das zu tun, was uns erfreut, befriedigt und befreit. Doch was ist, wenn ich mich nicht anstrengen mag? Schon die alten Griechen wussten, dass der Mensch das sucht, was ihn erfreut und meidet, was ihm Mühe macht. Dank der engen Beziehung zwischen Motivation und Gefühl können Musik, Bewegung, Tanz und ästhetischer Genuss erweckend wirken, indem sie einen Stimmungs-Anreiz liefern. Doch auch dieser kommt von aussen und so sind wir wieder, wo wir waren. Es zeigt sich, dass die Wissenschaft keine hinreichenden Antworten auf die Frage hat, was uns ausserhalb der erwähnten Belohnungs-Schemata antreibt. Das Unterbewusste und seine Beweggründe lassen sich nicht entschlüsseln, auf die Absicht kommt es an, soweit der aktuelle Stand. Absicht führt zu Selbstregulierung und hilft uns dabei, unseren Willen zu entwickeln, was zu grösserer Kompetenz führt. Aber erst mal die innere Sau rauslassen!

Tapfer, Ihre
Susanne G. Seiler


felder, offen für jedes licht

als würden sie ihre eigenen ränder
wieder und wieder nachziehen
sich ihrer lage vergewissern
als wäre da nichts als die lage
die gelassenheit, in der sich die farben sammeln
in streifen, zacken, angeschrägten kästen
ohne tiefe
wie etwas vorübergehendes
lack, den du mit einem nagel abkratzt
das bild, das wir voneinander behalten
ohne zu verstehen.

Anja Kampmann

juli 2021 – goodnews editorial

Critical Mass

Wie viele Schweizer braucht es, um eine Glühbirne auszuwechseln? (Bei uns wurde bekanntlich kürzlich das CO2-Gesetz abgeschossen, das wenigstens im Ansatz an unsere Bringschuld an die Umwelt hätte beitragen sollen.) Wie viele aktive Bürger müssen es sein, damit sich eine Gesellschaft ändert? Reichen sechs Prozent wirklich? Wie viele müssen aufs Fahrrad steigen, auf die Strasse gehen, demonstrieren, marschieren, Spruchbänder hochhalten und nach internationaler Solidarität rufen, bis sie ihre Forderungen konkretisieren können? Wie viele müssen sich einig sein? Und können sie sich überhaupt einigen? (Treffen sich zwei Konservative, freuen sie sich, treffen sich zwei Linke oder Grüne, ist der eine dem anderen nicht links oder grün genug.) Und falls sie sich doch einigen sollten, können sie sich durchsetzen? Das Klima sorgt bei allen für rote Köpfe. Küstenstädte, Bergdörfer und Trockengebiete wappnen sich, Klimaflüchtlinge kämpfen um ihr Überleben. Hausbesitzer sind in Sorge, Unwetter jagt Unwetter, Hitzewelle, Hitzewelle, Feuersbrunst, Feuersbrunst, Überschwemmung, Überschwemmung, Felssturz, Felssturz, Vulkanausbruch, Vulkanausbruch, Erdbeben, Erdbeben und noch immer geht kein Ruck durch unsere Gesellschaft. Ich fahr mit dem Zug in die Ferien (fliegen ist jetzt noch ineffektiver) und versuche auch sonst, leise zu treten, was Natur um Umwelt anbelangt, aber es ist nicht genug, auch wenn Hunderttausende von uns sich so verhalten. Veränderung drängt nicht nur von unten nach oben, sie muss auch aus der Industrie, der Regierung, den Betrieben, Werkstätten und Höfen kommen. Ist das Klima vielleicht nicht sexy genug? Wie kritisch ist die Masse? Wo und wie lässt sie sich umstimmen? Wo sind die Werber und Public Relationisten, die dem Kampf für das Klima und gegen das Artensterben ein gewinnendes Image verpassen? Eines, das in uns ein drängendes Verlangen entstehen lässt, viel Geld in die Umwelt zu investieren und an diesem lohnenden Vorhaben gut zu verdienen. Ich sehe das Plakat schon vor mir: Mein Wetter, mein Klima, meine Welt!

Erhitzt, Ihre
Susanne G. Seiler


was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie gross wie klein das Leben als Mensch
wie gross wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie gross wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Friederike Mayröcker

juni 2021 – goodnews editorial

Orthorexia nervosa

Nebst Anorexie und Bulimie gibt es neuerdings eine dritte offiziell anerkannte Essstörung, habe ich kürzlich gelesen. Es kann sein, dass Sie sie schon kennen. Bei der Orthorexie geht es um die Besessenheit mit gesundem Essen, heute ein relativ verbreitetes Leiden, auch wenn es oft unerkannt bleibts. Die meisten von uns hätten gerne Nahrung auf dem Teller, die uns guttut. Dagegen ist nichts einzuwenden, wobei die Meinungen dazu, was gut für uns ist, auseinanderklaffen. Für die einen geht es nicht ohne Fleisch, Fisch und Milchprodukte, für die anderen geht es nicht oder nur beschränkt mit. Was vegan heisst, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Früher waren die Menschen vom Essen besessen, weil sie nicht genug davon hatten, heute leiden wir unter einem Überangebot, wovon vieles unter fragwürdigen Umständen produziert wird. Für mich ist gesundes Essen das, was bei uns wächst (mit «uns» meine ich Westeuropa), nicht aus Massentierhaltung stammt und möglichst naturbelassen ist. Ich esse kein Tier, das nur auf die Welt gekommen ist, um zu sterben – für mich! Zucker versuch ich zu meiden, auch wenn ich eigentlich ein Schleckmaul bin. Ich trinke nicht immer genug, dafür nur mässig Alkohol. Meine psychoaktiven Gewohnheiten habe ich meistens im Griff. Ungesund wird das Gesunde, wenn man sich bei jedem Biss erst inquisitorisch vergewissern muss, dass einem ja nichts «Schlechtes» zwischen die Zähne kommt. Wenn alles nur noch aus biologischem Anbau sein darf und man die Krise kriegt, wenn man bei Freunden essen soll, die es damit nicht so genau nehmen. Weil bio zu sehr auf ihr Portemonnaie schlägt? Das kann ich nachvollziehen, denn auch ich kann es mir nicht leisten, jeden Bissen Essen zu vergolden. Ausser bei den Eiern und beim Fisch, da bin ich wegen des Tierleids unerbittlich, also nur in Demeter-Qualität bzw. aus Schweizer Seen, dafür weniger oft. Isst man im Allgemeinen gesund, kann man sich ab und zu ruhig etwas Abwechslung gönnen. Schon Rudolf Steiner sagte, es sei ist besser, ein Glas Wein zu trinken, als ständig daran zu denken. Mein Motto: Das Geheimnis einer guten Gesundheit liegt nicht in dem was man isst, sondern in dem, was man nicht isst. Ausnahmen bestätigen die Regel. Zu meinen, man könne seine Gesundheit nur über die Ernährung steuern, scheint mir zu kurz gegriffen. Genuss bleibt wichtig und richtig, Bewegung und ein gutes Beziehungsnetz sowieso.

Gut ernährt, Ihre
Susanne G. Seiler


Sommer

Ihr singt von schönen Frühlingstagen
Von Blütenduft und Sonnenschein
Ich will nicht nach dem Frühling fragen
Nein Sommer, Sommer muss es sein.

Wo alles drängt und sich bereite
Auf einen goldnen Erntetag
Wo jede Frucht sich schwellt und weitet
Und schenkt, was Süsses in ihr lag.

Auch ich bin eine herbe, harte
Bin eine Frucht, die langsam reift
O Glut des Sommers, komm! Ich warte,
Dass mich dein heisser Atem streift.

Gustav Falke

mai 2021 – goodnews editorial

Konformität und Individualität

Wir leben in gleichgeschalteten Zeiten, für Anderssein ist wenig Platz, nicht mal in den eigenen vier Wänden. In der Stadt sieht man es am deutlichsten, denn jedes Grüppchen und jede Gruppierung hat ihre eigene Uniform. Was man halt so am Leib hat, wenn man dazugehören will. Zu den Jungen, den Hipstern, den Erfolgreichen, den schmächtigen Nerds, den guten Müttern, zur eleganten Gesellschaft, zu den Asis am Fluss. Auch zu Hause stehen wir in der Pflicht unserer gewählten Lebensmodelle – sie könnten uns ohne die richtigen Accessoires, Ernährung, Lektüre, Serien oder Musik abhandenkommen. Sicherheit ist uns wichtig, ob wohl es sie kaum gibt. Wir wollen dazu gehören, damit wir uns gegenseitig versichern können, dass wir nicht irren, den richtigen Lebensweg gewählt haben, unser Leben selbst bestimmen, dass es vorwärts geht mit uns, geistig, emotional, körperlich, materiell. Unsere Fluchtpunkte heissen Land und Ausland. Auf dem Land sind die Menschen zwar konservativer, doch gleichzeitig ist mehr Platz für Eigenheit. Es sind aber nicht die Menschen, die das Landleben attraktiv machen, sondern die Zugänglichkeit der Natur. Sie umgibt uns, fängt uns auf und schenkt uns Kraft. Im Ausland sind wir zahlende Gäste, unsere Gastgeber üben Nachsicht und halten ein Auge auf uns. Wir geniessen Vogel- oder auch Narrenfreiheit und können wenigstens der äusseren Konformität ein paar Tage oder Wochen entkommen. Es gab noch nie so viel Individualität, so wenig Individualismus wie heute. Einer, der sich nicht nach Mode und Zeitgeist richtete, seinen Weg ging und sich nicht darum scherte, wer das gut fand und wer nicht, der sich selbst auch dann treu blieb, als sein Lebensmodell vom Rand in die Mitte rückte, war Lucius Werthmüller, an den ich immer wieder in Freundschaft und mit tiefem Bedauern denke. Er ist durch seinen unerwarteten Tod anfangs Monat zu einem Vorbild für mich geworden. Wäre er nur wie früher einfach der Luci, denn er fehlt uns sehr.

Traurig, Ihre
Susanne G. Seiler


Neige dich zu deinen Toten

Neige dich zu deinen Toten
sie hören
sie schauen
sie sprechen dir zu

weisst du?
sie leben dir zu…

Ich hab Leben gewählt
mit dem ganzen Ballast
die Füsse sind schwer
es versagt mir die Stimme

der Spiegel zerbricht
Sicht wird frei
ich gehe
ohne Ballast

Ilana Shmueli

Nachruf auf Lucius Werthmüller

Lucius Werthmüller † 22.5.1958 – 9.4.2021

Tief betroffen teilen wir Euch mit, dass unser Freund und Weggefährte, Luci Werthmüller, völlig unerwartet am 9. April von uns gegangen ist.

Es ist für uns kaum zu fassen. Eben noch, zwei Tage zuvor, waren wir noch im email-Kontakt, herzlich wie immer, verbindlich, authentisch, schnörkellos. Wir trauern mit seiner Familie und seinen Freunden.

Luci hinterlässt eine nicht zu füllende Lücke, auch als Präsident unserer Stiftung, die er seit Dieter Hagenbach‘s Tod vor bald fünf Jahren umsichtig und kompetent geführt hat.

In den vergangenen fast 30 Jahren haben wir Luci in zahlreichen Projekten als wahren Freund, Visionär und Wegbegleiter kennen und schätzen gelernt. Es war eine unglaubliche Chance, mit ihm zusammen zu arbeiten, in seiner freundlich-wohlwollenden, immer hilfsbereiten und uneigennützigen Art, mit seinem verschmitzten Humor, mit seiner fundierten Sachkenntnis und mit -last but not least- seiner immer spürbaren Verbindung zur geistigen Welt.

Als Stiftungsratpräsident hat Lucius Werthmüller viel Liebe und Energie in die Projekte der Gaia Media investiert. Die gaiamedia goodnews erscheinen monatlich. Die Psychedelika-Beratung in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Psycholytische Therapie (SÄPT), die ihm sehr am Herzen lag, findet seit September 2019 regen Zuspruch und hat mit der in den vergangenen Jahren intensivierten wissenschaftlichen Erforschung des therapeutischen Potentials von bewusstseinserweiternden Substanzen eine unerwartete Aufwertung und Aktualität erfahren.

Mit der Eröffnung der gaialounge samt ethnobotanika-Laden im September 2020 legte Luci den Grundstein für den Auftrag unserer Stiftung, einen Treffpunkt zu schaffen für den Austausch im Bereich von Bewusstsein, Ökologie, Spiritualität und der Erforschung bewusstseinserweiternder Substanzen. Es war sein tiefes Anliegen, ein neues Naturverständnis in unseren Kulturkreis einzubringen, das nun seinen Ausdruck findet in unserer gaiamediathek und in den geplanten Workshops, Vorträgen und Kulturveranstaltungen.

Mit der gaialounge findet ein Kern-Anliegen von Luci seine Erfüllung und wir fühlen uns geehrt, dieses Anliegen weiter in die Welt zu tragen.

Danke für Deine Liebe zur Sache, Dein Engagement, Deine Beharrlichkeit, Deine Geduld.

Wir werden Dich unendlich vermissen.

Für den Stiftungsrat:
Dr. Pierre Joset
Kerim Seiler

april 2021 – goodnews editorial

Lehrgeld

Lernen meint den absichtlichen oder beiläufigen Prozess der Aneignung neuer Einsichten, Kenntnisse, Verhaltensweisen, Fähigkeiten, Werte, Einstellungen und Vorlieben, sagt Wikipedia. Menschen, Tiere, aber auch Pflanzen, Pilze, Bakterien, Viren und bestimmte Maschinen bzw. deren Software sind in der Lage zu lernen. Das Wort lernen stammt von «lehren», «List» und «Leistung» ab. Es verleiht uns viele Vorteile: Wissen ist Macht. Auch das Wort «Spur» ist mit lernen verwandt, weil das gotische Wort lais, «ich weiss» eigentlich «ich habe nachgespürt» hiess. Man sagt, durch Schaden wird man klug, was teures Lehrgeld ist. Das kommt daher, dass ein Lehrling früher dafür zahlte, ausgebildet zu werden. Bräuchte es den Schaden, um klug zu werden, könnte man wohl nicht genug dafür ausgeben. Glücklicherweise machen wir uns, von der Wiege bis zur Bahre und vielleicht sogar darüber hinaus, auf körperlicher, intellektueller, emotionaler oder charakterlicher Ebene neues Wissen zu eigen, denn wir müssen uns unseren Gegebenheiten anpassen oder untergehen. Dabei ist spielerisches Lernen nicht nur Kindern vorbehalten, auch Erwachsene kommen in dessen Genuss. Übung macht hier den Meister, viele Fähigkeiten und Kenntnisse sammeln sich durch Wiederholung und Erfahrung an. Manche Einstellungen werden auf einen Schlag zu einem Teil von uns, in der Wissenschaft als One-shot-learning bekannt, ein evolutionärer Mechanismus, der nicht nur in der Computerwelt Anwendung findet. Zum Beispiel lernen junge Delfine, keine Menschen anzugreifen, indem sie mit der mütterlichen Flosse einmalig eins übergezogen kriegen. Eine heisse Herdplatte anfassen, gehört ebenfalls in dieses Kapitel – ein (hoffentlich nur leicht) verbranntes Kind wird denselben Fehler kein zweites Mal machen. Ausserdem gibt es bei allem Lernen eine Lernkurve, die aussagt, wie wir lernen. Oft sieht sie wie eine Glocke aus, wir legen los, steigern uns und erreichen ein Plateau, wonach die Lernfähigkeit wieder abnimmt; ebenso oft lernt man am Anfang am meisten und danach nicht mehr viel, was z.B. bei der Einnahme von Medikamenten der Fall sein kann, wo der Körper zunächst gut, später aber nur noch träge reagiert. Nun hatten wir alle in letzter Zeit die Gelegenheit, einige neue Verhaltensweisen zu erlernen, die nicht gerade Begeisterung auslösten, aber wir bleiben dran, weil wir auf Bestätigung oder Belohnung hoffen, der Kern allen Lernens.

Herzlich Ihre

Susanne G. Seiler


Irgendwann

irgendwann stand hier mal ein tisch
und irgendwann sass man hier auf stühlen,
wurden worte angeordnet für den morgen,
faltete man träume für den späteren gebrauch
bei dunkelheit und/oder nacht. hantierten finger
mit dem guten herend, reflektierten hohe fenster
ihre menschen und das licht, das sie umgab.
galt es, sich die schuhe auszuziehen
und die hände gut zu waschen – die hände
gut zu waschen! – vor dem essen. das heisse wasser
auf der roten haut und harz unter den nägeln,
von irgendeinem baum im freien.

Levin Westermann

märz 2021 – goodnews editorial

Spiritualität

Für mich bedeutet Spiritualität in erster Linie, gewisse ethische Standards einzuhalten: wahrhaftig zu sein, in Frieden zu gehen, mein Wort nicht zu brechen und für andere da zu sein. Das gelingt natürlich nicht immer. Spirituell sein, heisst, sich mit Fragen des Geistes zu befassen. Das kann erst einmal alles Mögliche sein und fängt damit an, dass man sich für Dinge interessiert, die über die eigene Person und unmittelbare Lebenslage hinausgehen. In diesem Sinn sind Kinder zutiefst spirituell, sie sehen das Lebendige in allen Dingen. Die Sorge zur Umwelt gehört auch dazu, die Welt in ihrer gesamten Materialität als Erweiterung seiner Selbst zu verstehen und behutsam mit ihr umzugehen. Auch über sich und die Welt nachdenken sowie die Auseinandersetzung mit dem Göttlichen, Kosmischen oder Universellen sind Schritte auf dem Weg zur Vergeistigung. Die alten Griechen orientierten sich in ihrer Geisteshaltung am Schönen und Guten. Das können Dinge, Werte oder Einstellungen sein wie die Suche nach Wahrheit, nach Befreiung und dem richtigen Mass in allen Dingen. Es gibt viele Menschen, die ihre Spiritualität aus ihrem religiösen Glauben beziehen. Andere richten sich nach einer allgemein gültigen, ewigen Philosophie, der Weisheit der Völker. Die meisten Menschen wollen nicht töten, sondern in Frieden leben, ihre Eltern und Familien ehren, einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen und in Würde alt werden, sofern es ihnen gegeben sei. Meiner Erfahrung nach sind die Menschen überall gleich, es herrschen bloss unterschiedliche Sitten. Was Spiritualität für mich aber keinesfalls sein kann, ist anderen durch Gebote oder Dogmen zu sagen, was oder wie sie glauben müssen oder welche Gefühle erlaubt und welche tabu sind. Nicht in Praktiken wie Meditation, Achtsamkeit oder Kontemplation zeigt sich wahre Spiritualität, sondern im Alltag. Gute Taten reichen nicht aus, auf die Gesinnung kommt es an. Und auch wenn man sich mit Gleichgesinnten austauscht, spirituell ist jeder und jede für sich allein.

Mit Frühlingsgruss, Ihre
Susanne G. Seiler


kein worte
für das Licht
das mich streifte

Michael Denhoff

februar 2021 – goodnews editorial

Diesen Monat stimmen wir, das Schweizer Volk, darüber ab, ob Burkas hier verboten werden sollen. Wir müssen bereits mit dem unnötigen Verbot von neuen Moscheen leben, unserem ersten „Scheingesetz“. Als friedliche und freiheitsliebende Bürgerin mag ich es nicht, anderen Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun haben, solange sie dabei keinen Zwang ausüben. Ich stelle mir vor, dass Frauen „unter den Schleier gezwungen“ werden, wie manche in unserem Kulturkreis früher ins Kloster bugsiert wurden. Es sind wenige, und unsere Gesetze müssen ausreichen, um sie – und uns alle – vor solchen Übergriffen zu schützen. Wenn eine Frau das Haus nicht verlassen kann, weil sie nur vollverschleiert nach draussen gehen darf, wird sie kaum eine Möglichkeit finden, sich zur Wehr zu setzen. Ich habe hier bisher nur eine vollverschleierte Frau gesehen, ausser auf Fotos von Touristinnen, und fand diese verhüllte Person ein wenig befremdlich. Aber hat sie mir etwas angetan? Vielmehr machte sie den Eindruck, als würde sie sich gerne unter ihrer Burka verstecken, so viel war an ihren Bewegungen zu erkennen. Wie jeder weiss, bietet eine Verhüllung oder Verkleidung ein gewisses Mass an Narrenfreiheit. Was an der Fasnacht nicht stört: Dass man nicht sieht, wer sich unter dem Kostüm versteckt. Wir wollen abschätzen können, ob jemand Böses im Schild führt, das ist unser Recht. Aber ist die feige Islamophobie, die sich hinter diesem Pseudo-Gesetz versteckt, auch unser Recht? Verkleidungen gibt es viele, der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. Terroristen tun so, als seien sie Normalos. Werden die gefühlten dreissig Burka-Trägerinnen in der Schweiz mein Sicherheitsgefühl erschüttern können? Hass darf nicht geschürt werden, wo kommen wir da hin!

Herzlich
Susanne G. Seiler


Winter

Der Fjord mit seinen Inseln liegt
wie eine Kreidezeichnung da;
die Wälder träumen schnee-umschmiegt,
und alles scheint so traulich nah.
So heimlich ward die ganze Welt…
als dämpfte selbst das herbste Weh
aus stillem, tiefem Wolkenzelt
geliebter, weicher, leiser Schnee.

Christian Morgenstern

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