oktober 2021 – goodnews editorial

Sprachgrenzen überschreiten

Wir sind ein einig Volk von Sprachpolizisten! Von Anfang an wachen wir peinlich darüber, dass gerade die Schwächsten in unserer Gesellschat nicht über ein gewisses sprachliches Level hinauskommen. Es braucht mehr Unterricht für den scheuen Surprise-Verkäufer vor der Migros, der keine umgangssprachliche Übung mit Eingeborenen wie mich hat. Er wollte mich warnen, mein Veloständer sei nicht hochgeklappt. Sehr aufmerksam. Meine Freundin Brigitte, die vor über vierzig Jahre in die Schweiz eingewandert ist und längst den roten Pass besitzt, klagt, sie werde bis heute immer wieder wegen ihrer Sprache angemacht. Ihr Schweizerdeutsch sei nicht Schweizerdeutsch, ihr Deutsch nicht Deutsch genug. Wo sie denn sie herkäme, in Deutschland? Eine ziemliche Frechheit, natürlich ‘nicht bös gemeint’. Auch ohne Amt oder Gesetz, das über die schweizerdeutschen Dialekte wacht, müssen Deutsche und Österreicher ein peinliches Protokoll befolgen, wenn sie bei uns heimisch werden wollen. Schweizerdeutsch ist tabu! Bitte nur verstehen, nicht sprechen, weil, ihr könnt es ja sowieso nicht, dass kann kaum einer, die nicht hier aufgewachsen ist. Es gibt eine der Höflichkeit geschuldete Karenzzeit für deutschsprachige Ausländer, die nicht gleich bei uns an der Grenze leben. Dass dabei die schweizerischen Arbeitskolleginnen unter sich immer wieder in ihren Dialekt zurückfallen, statt sich der Schriftsprache zu bedienen, gehört dazu. Wir wollen unseren zugewanderten deutschsprachigen Nachbarn unser Hochdeutsch aber nicht über das Notwendige hinaus zumuten. Was meinen die eigentlich, fragte mich Brigitte echauffiert. Ihr Deutsch sei derart gut? Unseren neuen Mitbürgern aus dem Norden und Osten ist längst ein sprachliches Licht aufgegangen. Sie verstehen uns gut. Warum also die Schriftsprache noch länger strapazieren? Während sie uns mit ihrer eigenen Sprache erfreuen, sprechen wir die unsere und eröffnen ihnen damit eine bessere Integration. Und als Bonus stehen wir selbst etwas bescheidener da. Oder wir sprechen alle englisch, noch so ein Kapitel. Sprachen lernen lohnt sich. Es sei denn, man lebt in der Schweiz, wo alle erst einmal denken, sie könnten sowieso alles besser als du. Bitzeli Päch, das.

Nicht minder herzlich, Ihre
Susanne G. Seiler


Sprachlicher Rückstand

Immer noch
sagen wir dem
was am Morgen geschieht
die Sonne geht auf
obwohl seit Kopernikus klar ist
die Sonne bleibt stehn
und
die Welt geht unter.

Franz Hohler

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