februar 2022 – goodnews editorial

Lob der Langeweile

In den beiden letzten Jahren wurden wir vermehrt auf uns selbst zurückgeworfen, ob wir allein leben oder nicht. Unser Innenleben hat eine neue Bedeutung erlangt, ob wir uns als spirituell bezeichneten oder einem eher extrovertierten Lebensstil anhingen. Wir mussten uns näher mit uns selbst anfreunden, denn wir sassen kollektiv zu Hause, sahen weniger andere Menschen, schliefen mehr, liebten mehr –  oder weniger – und sahen wie durch ein Vergrösserungsglas, was unser individuelles Leben ausmacht. Bildschirm. Familie. Sex. Bewegung. Einkaufen. Kochen. Essen. Unterhalt. Die Konfrontation mit der Essenz unserer inneren Landschaft, unserer eigenen Natur, ist nicht immer angenehm. Nicht nur, weil wir vielleicht Seiten an uns entdecken, für die wir uns schämen, oder weil wir Verhaltensweisen ändern möchten, die wir nur schwer ablegen können. Wir sind uns gewöhnt, so produktiv wie möglich zu sein, selbst Innenschau heisst ‘etwas tun’. Vielleicht liegt es in unserer Natur und wir können gar nicht anders, als nach einem Mehrwert oder Lustgewinn streben, wären wir doch mit ein wenig Langeweile so gut bedient. Auch Langeweile ist mehr als nichts tun. Wir könnten viele schöne geistige Abenteuer erleben, würde wir sie uns nur ab und zu zugestehen! Löcher in die Luft starren, unsere Gedanken kreisen lassen um die Idee, dass wir nicht wissen, was mit uns anfangen. Loslassen, die Gedanken treiben lassen, den Wolken beim Vorbeiziehen zusehen. Den trivialen, wie auch die bedeutenden Überlegungen, die uns durch den Sinn gehen, freien Lauf lassen, bis auch sie langweilig werden. Dann denken wir an nichts mehr und sind herrlich unproduktiv. Doch nur zu schnell regt sich der nächste Impuls und schlängelt sich in unser Bewusstsein. Bald kommt der Frühling und Gedanken werden zu Taten.
Sehnsüchtig Ihre,

Susanne G. Seiler


Alle meine Schiffe

Alle meine Schiffe
haben die Häfen vergessen
und meine Füsse den Weg.
Es wird nicht gesät und nicht geerntet
denn es ist keine Vergangenheit
und keine Zukunft,
kaum eine Bühne im Tag.
Nur der kleine
zärtliche Abstand
zwischen dir und mir,
den du nicht verminderst.

Hilde Domin

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