goodnews september 2025 – editorial: ich bin also denke ich?

Cogito ergo sum. Die meisten von uns sind als Schüler mit diesem Diktum des Wissenschaftlers und Mathematikers René Descartes (1596–1650), dem Vater der modernen Philosophie, in Berührung gekommen. Schon damals in der Schule war ich anderer Meinung: Wie könnte ich ohne Gehirn überhaupt denken? Oder ohne Körper?

Das führt uns zu der viel schwierigeren Frage, was Bewusstsein eigentlich ist. Ich werde nicht so tun, als hätte ich die Antwort darauf. Die Neurowissenschaft geht jedoch zunehmend davon aus, dass Bewusstsein keine Voraussetzung, sondern eine Folge der Wahrnehmung ist. Bevor wir einen Gedanken bilden, müssen wir unsere Umgebung wahrnehmen und uns über unsere Sinne mit der Realität auseinandersetzen. Das haben wir mit allen fühlenden Wesen gemeinsam. Tiere und andere Lebensformen denken vielleicht nicht wie wir, aber sie sind bewusst genug, um in einer oft feindlichen Umgebung zu überleben, und oft besser an das Leben angepasst als wir, die wir uns von unserer – wahren – Natur entfremdet haben.

Während das Denken mit der neuronalen Aktivität im Gehirn verbunden ist, kann Bewusstsein auch ohne Verständnis auftreten, wie bei der Meditation oder bei Babys, bevor sie sprechen können. Das Gleiche gilt für Patienten im Koma oder auf dem Operationstisch, die wahrnehmen, was um sie herum gesagt und getan wird, ohne darüber nachzudenken. Es gilt für die Katze, die einen Sonnenstrahl geniesst, oder die Maus, die das Rascheln des Grases um sich herum wahrnimmt, für den Vogel, der im Wind tanzt, und den Puma, der durch den Dschungel streift.

Könnte es sein, dass wir Descartes missverstanden haben? Vielleicht wollte er uns einfach nur mitteilen, dass das Denken seine Raison d’être war und dass er sich ohne intellektuelle Auseinandersetzung mit der Welt wie ein Fisch auf dem Trockenen fühlte. Hängt unsere Menschenwürde wirklich von unserer Fähigkeit ab, zu analysieren und zu produzieren, anstatt aus unserem Sein, dem Gefühl des „Ich bin“, zu entspringen? Unsere Wahrnehmung entsteht aus unserer gelebten Erfahrung der Welt. Wir sollten sowohl unser Herz als auch unseren Verstand einsetzen, um uns mit ihr auseinanderzusetzen. Bewusstsein ist mehr als Denken!

Herzlich, Ihre
Susanne G. Seiler

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